Gelbwesten, Corona und Le Pen: Wo ist mein solidarisches Frankreich geblieben?
Essay 2014 berichtete sie erstmals vom rechten Parteitag, jetzt steht Romy Straßenburg verzweifelt vor den Neuwahlen am 30. Juni: Wie konnte es zu so einem Rechtsruck kommen? War Frankreich nicht einst frei? Ein selbstkritischer Blick zurück
„Raclure“ heißt „Abschaum“: Antifaschistische Demonstration in Paris, 15. Juni 2024
Foto: William Keo/Magnum Photos/Agentur Focus
Sand in den Sandalen, braun gebrannte Haut, aus den Lautsprechern dröhnte der Sommerhit Tomber la chemise von Zebda, und wir, die eher nüchternen Berlinerinnen, tauschten bisous mit unseren französischen Sommerflirts, die wir im Zeltlager an der Atlantikküste kennengelernt hatten. Es war wenige Jahre nach dem Mauerfall, es war eine Zeit, in der mir Europa vorkam wie eine riesige Spielwiese. Ein Wochenende in Amsterdam mit obligatorischem Besuch im Coffeeshop, ein paar Tage in Napoli, eine Woche in Schottland. Über den Dächern von Berlin-Prenzlauer Berg öffneten wir zum Jahreswechsel 2002 nicht nur Sektflaschen, sondern auch unser Starter-Pack mit den ersten Euro-Münzen.
Plötzlich empfand ich die deutsche Einheit, die für meine Eltern und vie
ür meine Eltern und viele ihrer Freunde einen manchmal schmerzhaften Neuanfang bedeutete, als eine große Wundertüte. Denn da war ja nicht nur die BRD. Hinter der Mauer hatten sie ja schon jahrzehntelang an dieser verrückten Idee gewerkelt. Die Idee, supranationale Strukturen zu schaffen und Entscheidungskompetenzen abzugeben, in der Hoffnung, so stärker zu werden. Kurzum: an der EU. Und die gehörte jetzt auch uns. Ich fand das gigantisch, und ich glaubte, es wäre die Antwort auf all die Ewiggestrigen, die Verbohrten, Engstirnigen, jene, die nach einfachen Antworten suchen, die sich vom Gesülze der nationalen Abschottung einlullen lassen. Und von denen gab es gerade in der untergegangenen DDR jede Menge, weil sie verunsichert, verängstigt waren.Europa kriegt das hin: Bankenkrise, Flüchtlinge, InflationIm jugendlichen Überschwang und mitten im brodelnden Berlin aber war mir das alles ziemlich egal. Mein Bruder brachte von einem Freiwilligendienst eine französische Freundin mit. Ich war begeistert. Die Klasse, der Stil, die Sprache, die ich mit aller Beharrlichkeit paukte. Frankreich war das Land meiner Träume, so anders als das miefige Deutschland und das raue, rotzige Berlin. Also Paris! Nach dem Studium und die ersten Monate lief ich wie besoffen durch diese wunderschöne Stadt und fuhr durch dieses facettenreiche Land, um es zu meinem zu machen. Um mich herum, so kam es mir vor, Gleichaltrige, Gleichgesinnte, genauso europaverliebt, selig taumelnd, studierend, prekär vielleicht, aber mit dem guten Gefühl, dass dieser Kontinent friedlich und freundlich mit uns umgehen würde und wir unseren Platz auf ihm finden und ihn mitgestalten würden, mit den besten Absichten, nach unseren Überzeugungen. Weltoffen, demokratisch, möglichst sozial und solidarisch.Aber wir wurden erwachsener, und je erwachsener wir wurden, desto komplizierter wurde es mit diesem Europa. Terror fand plötzlich mitten vor unserer Haustür statt. Angst wurde Teil unseres Alltags, in Paris, in Nizza, in Berlin. Wir sahen Bilder von Menschen, die in Schlauchbooten das Mittelmeer überquerten, die auch von Europa träumten, so wie wir, die Erasmus-Studenten, die sich nur selten fragten, ob dieses Europa eigentlich noch mehr Menschen gehören soll als uns selbst, und wenn, dann wem. Europa kriegt das schon hin, dachten wir mit unser rosaroten Bohème-Brille. Das mit der Bankenkrise, mit den Flüchtlingen, mit der Inflation, mit den Krakeelern von rechts.Papa Le Pen neben MarineAuf meinem ersten Parteitag des Front National, über den ich 2014 berichten sollte, stand noch Papa Le Pen neben Marine. Und massenhaft junge Fans bejubelten den Alten, als wäre er ein lieber, sympathischer Opa, der nicht mehrfach als Holocaustleugner verurteilt worden war. Die machten Selfies mit ihm, wie mit einem Rockstar. Alles Spinner, das gibt sich wieder, dachte ich. Im Pressezentrum schlürften Journalisten Champagner, während Marine durch die Menge schritt wie eine Königin.Ein Jahr zuvor hatte sich in Deutschland eine Partei gegründet, die behauptet, eine Alternative für Deutschland zu sein. Wenn ich in Frankreich darauf angesprochen wurde, sagte ich: Nicht bei uns, mit unserer Geschichte, die machen es nicht lang. Vielleicht hätte ich damals, zwischen den weichgespülten französischen Rechtsextremen, die eine Wahl nach der anderen abräumten und die viele trotz ihres europafeindlichen Programms und ihrer hetzerischen Töne wählten, hellhörig werden müssen. Sie waren nicht nur ein hässlicher Fleck auf dem weißen Tischtuch der Demokratie, sie schickten sich an, Frankreich zu erobern, die Macht zu ergreifen.Brexit, dann die Gelbwesten, dann Corona, dann: KriegWenige Jahre später kam der Brexit, aber auch den, glaubte ich, werden wir schon irgendwie verkraften, wenn wir die EU solidarischer, sozialer, ökologischer und transparenter machen. Immerhin hatten wir ja noch unseren Joker Super-Manü, den Vorzeige-Europäer Emanuel Macron, der uns irgendwie dynamisch vorkam, wie ein One-Man-Europe-Start-up. Blöd nur, dass er im eigenen Land so wenig sozial, solidarisch und ökologisch unterwegs war und in seinem goldverzierten Élysée-Palast dem Volk immer entrückter erschien. Als dann nach den langen Streikmonaten, dem großen Aufstand der Gelbwesten und nach den Corona-Ausgangssperren endlich wieder so etwas wie Ruhe einkehrte, begann der Ukraine-Krieg, und plötzlich dachte ich wieder an diese DDR, an dieses untergegangene Land, das mal mein Land war.Und immer wenn Herr Schönenborn in der ARD am Wahlabend vor blauen Bälkchen die Ergebnisse für Ostdeutschland vortrug, hätte ich mir am liebsten Augen und Ohren zugehalten. In meinem neuen Land, Frankreich, waren die Chancen für die Rechtsextremen wegen des Wahlsystems nämlich gering. In jeder Stichwahl schlossen sich die Gemäßigten links und rechts zusammen, und der „arc républicain“, die Brandmauer gegen rechts, verhinderte, dass Le Pens Leute die politische Macht auf nationaler Bühne an sich rissen. Die AfD war schon 2017 als drittstärkste Partei in den Bundestag gezogen und ließ keinen Zweifel daran, dass sie noch mehr wollte.Neuwahlen: Konservative versammeln sich hinter Le PenHeute befinden wir uns inmitten von Chaostagen. Gewissheiten schwinden. Masken fallen. Am 30. Juni sind vorgezogene Neuwahlen, am 7. Juli folgt die zweite Runde. Aus dem konservativen französischen Lager versammeln sich plötzlich Kandidaten hinter Le Pen und ihrem Ziehsohn Jordan Bardella, der Premierminister werden möchte. Der Chef von Les Républicains, Éric Ciotti, läuft über, wird von seiner Partei ausgeschlossen, klagt dagegen. Jede Stunde ein neuer Akt im Trauerspiel. In Windeseile hat sich auf linker Seite ein Bündnis gefunden, von Kommunisten über Sozialisten bis zu Grünen, sie alle wollen als „Front Populaire“ antreten und Geschichte schreiben. Nicht selten beziehen sie sich auf 1936, bei den Demos am Wochenende hielten viele Schilder mit dem Konterfei des Widerstandskämpfers Léon Blum in die Höhe. Auf allen Seiten wird nach Rettern gesucht, nach der Inkarnation einer neuen linken Einheitsbewegung, die wenigstens drei Wochen lang die Meinungsverschiedenheiten vergessen machen könnte.Derweil tobt ein Spektakel in den Medien, wo über Verrat, Lügen und Ablenkungsmanöver gestritten wird, wo gepöbelt und verleumdet wird, wo man von Angst und Widerstand, von Revolten und Bürgerkrieg hört. Was würde passieren, wenn auch nach den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im September solche Chaostage ausbrechen?Ich könnte dem Spektakel zuschauen, angewidert, distanziert, und mir sagen, was für eine verdorbene Politik-Elite da gerade die Zukunft unserer Länder, unseres Kontinents aufs Spiel setzt. Ich könnte mich aber auch fragen, wo ich eigentlich war in den vergangenen Jahren. Wie ich mich eingesetzt habe, für jene Menschen, die nicht die gleichen Chancen auf eine Ausbildung, auf Reisen, auf das Sprachenlernen hatten. Für Millionen, die sich wirtschaftlich abgehängt und im Stich gelassen fühlen, die Europa als korrupt empfinden, nicht als Garant von Frieden und Wohlstand. Menschen, die in der Einwanderung und in der Präsenz anderer Kulturen und Religionen keine Bereicherung, sondern eine Bedrohung sehen. Menschen, die ihre Identität schon einmal, im Jahr 1990, verloren haben und sich neu erfinden mussten. Was haben wir getan für all jene, die heute den Rassemblement National oder die AfD wählen?Wir fanden Didier Eribon gelungen, aber was haben wir beigetragen?Hätten wir uns mit unseren Universitätsabschlüssen, unseren Erasmus-Semestern, unserem Wissen und Können nicht etwas für sie ausdenken müssen? Ihnen Perspektiven eröffnen, die über Corona-Hilfen und ein bisschen Sozialleistungen hinausgehen? Stattdessen sitzen wir sonntags gemütlich bei einem Matcha Latte, lesen ein Interview mit dem Soziologen Didier Eribon. Wir finden seinen Beststeller Rückkehr nach Reims so gelungen, denn er beschreibt treffend die Wählerwanderungen der Arbeiterschaft von den linken Parteien zu den Rechtsextremen. Wir posten im blauen T-Shirt mit Euro-Emblem auf Insta: „Geht zur Wahl.“ Wir hören mal hier einen Podcast, schauen da eine Doku und fühlen uns immer noch auf der richtigen Seite. Aber wo waren wir in all den Jahren?Wir bastelten an der Balance zwischen beruflicher Selbstentfaltung, unseren Beziehungen, unseren Familien. Wir setzten die Hoffnung darein, dass unsere Demokratien, unsere Politik, unser Europa das Schlimmste schon verhindern würden. Manchmal waren wir auch da und riefen: „Wir sind mehr!“ Und: „Wir sind viele!“ Das machte Spaß, das hat uns überrascht, und das Menschenmeer und die Musik beseelten uns in diesen „Aufstehen gegen rechts“-Momenten.Als ich am vergangenen Samstag mit dem Demonstrationszug durch Paris lief, hatte ich einen Funken Hoffnung, dass sie noch da sind. Mein solidarisches Frankreich, mein demokratisches Deutschland und unser buntes Europa. Hoffnung ist an Chaostagen nur ein schwacher Trost.Placeholder authorbio-1
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