Soziologe Steffen Mau: „Ostdeutschland könnte für uns eine Probebühne werden“
Interview Der Soziologe Steffen Mau sagt: Die Idee der Angleichung von Ost und West ist gescheitert, die politische Kultur wird im Osten auf Dauer eine andere sein. Welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen?
Steffen Mau: „Der Osten ist ein politisiertes Diskursfeld, wo sich vieles nur als Kampf um Deutungen darstellt“
Foto: Meike Kenn
Steffen Mau kommt mit zwei Reisetaschen in der Hand, er war mit dem Zug unterwegs und konnte sie nicht in seinem Institut an der Humboldt-Uni abstellen, sagt er, weil es nach der Besetzung propalästinensischer Studierender renoviert werden müsse. Also treffen wir uns im Konferenzraum des Freitag, um über sein neues Buch, Ungleich vereint (Suhrkamp), zu reden, die Eigenart des Ostens und warum jüngere Menschen auf ostdeutsche Identität pochen.
der Freitag: Herr Mau, Sie haben sich nach „Lütten Klein“, Ihrem Buch von 2019 über das Plattenbaugebiet in Rostock, wo Sie aufgewachsen sind, erst mal mit anderen Themen beschäftigt. Was zieht Sie nun zurück nach Ostdeutschland?
Steffen Mau: Ich wollte nie ein ostdeutscher Soziologe sein, auch we
men beschäftigt. Was zieht Sie nun zurück nach Ostdeutschland?Steffen Mau: Ich wollte nie ein ostdeutscher Soziologe sein, auch wenn ich manchmal so gesehen werde.Nervt das?Natürlich kann es nerven, wenn man zum Klassensprecher von etwas ernannt oder so gelesen wird. Ich nehme einfach an einer Debatte teil, die immer noch von zu wenigen Leuten geführt wird, die zudem noch viel pluraler und in der Altersstruktur diverser sein könnte. Und seit 2019, seit Lütten Klein, hat sich eine Menge verändert. Viele Dinge, die mich am Osten als Forschungsgegenstand interessieren, waren damals schon angelegt und ich kann sie nun fortführen und darauf aufbauen.Sie untersuchen, wie sich seit den 90ern die Transformation auf die Menschen auswirkt. Und sagen in „Ungleich vereint“, dass wesentliche Unterschiede zwischen Ost und West nicht verschwinden, sondern eher verfestigt würden. Es gebe eine „Ossifikation“, zwei Teilgesellschaften. Was bedeutet das?Wenn sich zwei Teile eines Landes unterschiedlich entwickeln, sich eigene Sozialstrukturen und Mentalitäten herausbilden, ist das erst mal kein grundlegender Konflikt, aber es kann einer werden. Es gibt spezifische Ost-West-Erfahrungen und Reibeflächen, die auf unterschiedliche Weise politisiert werden, zumal wenn die Demokratie so herausgefordert wird wie im Osten. Und natürlich wächst zugleich enorm viel zusammen.Und wenn man auf ostdeutsche Identität guckt?Dann ist es eher eine Teilidentität. Die Menschen wollen sich nicht von einer gesamtdeutschen Identität abgrenzen. Ostdeutschland ist kein Katalonien 2.0, wo man sich gegen die spanische Zentralregierung zur Wehr setzt. Sondern es ist eine Prägung und Erfahrungsschicht. Bei den allermeisten ist das Ostdeutsche ein biografischer Anker, eine Facette ihrer Identität, die eine manchmal geringere und dann wieder eine größere Rolle spielt. Die verschiedenen Identitäten stehen nicht im Widerspruch zueinander. Man kann Schweriner sein, Mecklenburg-Vorpommerner und Ostdeutscher und Deutscher und Europäer. Sogar Weltbürger.Aber die Idee, die Unterschiede würden schon irgendwann verschwinden, ging nicht auf?Ja, das ist meine Kernthese: Wir haben lange von der ostdeutschen Transformationsgesellschaft gesprochen und die Vorstellung war, dass es so etwas wie ein „Aufholen“ gibt. Oder eine Annäherung. Und jetzt, nach 35 Jahren, ist diese Transformationsphase auch mal vorbei und man kann Bilanz ziehen. Dann sieht man, dass sich viele Dinge sehr tief eingenistet haben. Soziokulturelle, demografische Strukturen, die unterschiedlich sind, aber eben auch Mentalitäten, politische Bewusstseinsformen, Weltanschauungen. Es geht nicht nach und nach alles weg.Diese Unterschiede wird man noch in 30, 40 Jahren sehen?Ja, und das macht diese politische Rhetorik der „inneren Einheit“, des Aufbaus Ost oder der Aufholjagd immer leerer und hohler. Natürlich wollen wir in vielen Feldern, bei den Löhnen zum Beispiel, aufholen, aber in anderen Feldern wollen wir das gerade nicht. Bei der Abdeckung mit Kitaplätzen möchte man nicht auf Westniveau sein oder beim Gender Pay Gap. Und es gibt auch problematische politische Ungleichentwicklungen, die sich jetzt dynamisieren.Was hat sich so eingraviert, dass es mehrere Generationen bis heute prägt und verbindet?Man kann das das „Umbruchsgedächtnis“ nennen, zugleich spielt der Schatten der DDR auch eine Rolle. Man könnte eine Verstetigungsthese aufstellen. Die beschreibt einen eigenständigen Entwicklungspfad, der auf strukturelle Brüche, die sich mehr oder weniger reproduzieren, zurückzuführen ist. Natürlich: Die ostdeutsche Gesellschaft ist kein Käfer, der in Bernstein eingeschlossen ist und eine ultrastabile Gesamtstruktur hat, sondern sie verändert sich. Aber sie passt sich eben anders an. Die Register, mit denen man zum Beispiel auf geopolitische Ereignisse, wie Russlands Krieg in der Ukraine, reagiert, zeigen dann, dass oberflächlich viel Annäherung stattgefunden hat. Aber wenn dann so ein externer Schock kommt, ein Großereignis, deuten Ostdeutsche es eben anders als Westdeutsche. Da werden die Diskrepanzen wieder sichtbarer.„Meine Generation hat ihr Ost-Sein eher versteckt. In den folgenden Generationen entsteht jetzt ein neues Selbstbewusstsein“Woher kommt bei Jüngeren der starke Bezug zur ostdeutschen Identität? Weil es ein Alter ist, wo man nach seinen Wurzeln sucht, seiner Herkunft?Meine Generation und auch die Leute, die zehn Jahre älter sind, die haben ihr Ost-Sein eher versteckt. Auch Angela Merkel hat versucht, das möglichst stark abzuschotten und nicht ins Zentrum zu stellen. Und in meiner Generation hat man auch vom Osten und der DDR inklusive ihrer Nostalgiker die Schnauze voll gehabt. Aber in der zweiten und dritten Generation gibt es nun, wie bei Migrant:innen übrigens, neue Formen der Kulturalisierung. Die erste Generation versuchte nach der Wende, sich im Westen anzupassen, nicht aufzufallen.Sie musste klarkommen.Und in den folgenden Generationen entsteht ein wachsendes Selbstbewusstsein. Es fällt außerdem in eine Zeit des Aufstiegs von Identitätspolitik. Man kann heute etwas thematisieren, was vor 20 Jahren noch für Irritationen gesorgt hätte. So haben sich jüngere Ostdeutsche gefragt: Warum ist eigentlich das Merkmal ostdeutsch, wo es doch starke Asymmetrien und Ungleichheitsverhältnisse zwischen Ost und West gibt, identitätspolitisch gar kein relevantes Merkmal? Das wird jetzt nachgeholt. Es gibt gerade bei den 20- bis 35-Jährigen eine recht starke Zustimmung für Förderungsmaßnahmen für Ostdeutsche.Placeholder image-1Auch Nachwendekinder hätten „dauerhafte Nachteile“, schreiben Sie. Inwiefern?Es gibt erhebliche Ungleichheiten, wenn man sich nur die Einkommen und die Größe des Niedriglohnsektors anschaut und die ungleichen Vermögen. Nur zwei Prozent der Erbschaftssteuer werden im Osten bezahlt. Hamburg allein zahlt mehr Vermögenssteuer als der gesamte Osten. Es gibt verhältnismäßig wenige Stiftungen im Osten. Erst vor vier Jahren wurde die erste ostdeutsche Bundesverfassungsrichterin berufen. Mehr als 30 Jahre nach dem Fall der Mauer. Und es gab eine riesige Debatte, ob sie qualifiziert genug sei.Dass wir nun im Westen leben, der soziale Wandel, führte nicht dazu, dass sich das Bewusstsein verändert hat?Teils-teils, die eigene Sozialisation schwächt sich vielleicht ab, löst sich aber nicht auf. Und diese Erbschaft – des Ostens oder der DDR – bleibt mächtig. Es gibt sogar eine kulturelle Eigenlogik, die aus sich heraus Dinge reproduziert. Das findet im Osten zum Teil über familiale Narrative und öffentliche Diskurse statt. Und dann ist dort das Ost-Sein ein stärkeres Thema. Das hat ja mindestens 20 Jahre ein Schattendasein geführt. Man hat im politischen Raum ja fast immer „die fünf neuen Bundesländer“ gesagt, um nicht über Ostdeutschland zu sprechen. Das ist heute anders.„Mir sind auch Ossi-Jammertum und Larmoyanz zuwider. Als Soziologe möchte ich nüchtern und souverän mit meinem Gegenstand umgehen“Sie kritisieren, dass Ost-West-Debatten häufig aus Klischees bestehen, Missverständnissen, medialer Kollektivschelte, der Trotz folgt. Ein „Welt“-Journalist redete in einer Talkshow von „Ostwahlen“ im Herbst. Wer würde „Westwahlen“ sagen?Ja, das stimmt. Die Kritik am Einigungsprozess wird mit „alternativlos“ gekontert, DDR-Biografien pauschal deklassiert, Ostdeutsche wiederum fordern die Anerkennung von Lebensleistungen. Das ist eigentlich immer dasselbe Diskurskarussell, aus dem wir kaum aussteigen können. Aber das Ossi-Jammertum und diese Larmoyanz, die ich mitunter erlebe, sind mir auch zuwider. Ich habe eine soziologische Kompetenz, die ich anwenden möchte, um möglichst nüchtern und souverän mit dem Gegenstand umgehen zu können, ohne in diese klassischen Gräben hineinzugeraten. Ich suche einen souveränen Diskurs, mache mich erst mal frei von vordergründiger Politisierung.Aber es stört Sie, wie über den Osten geredet wird?Ja, da ist mir vieles zu reflexhaft. Wenn ich zum Beispiel Jenny Erpenbeck nehme: Über ihre öffentlichen Äußerungen zur DDR kann man diskutieren und da würde ich vieles nicht unterschreiben. Aber sie kriegt einen international renommierten Buchpreis ...… für ihren Roman „Kairos“ bekam sie den internationalen Bookerpreis, als erste Deutsche …… und von manchen Medien wird ihr Roman dann so gelesen, als sei es ein vor allem politisches Manifest. Der gesamte Roman wird nur politisch interpretiert und die literarische und ästhetische Leistung wird zur Nebensache. Da wird Katharina, der Heldin, vorgeworfen, dass sie den Westen als kommerzialisiert beschreibt. Wo der Osten doch so viele schlechte Seiten hat und der Westen Freiheit gebracht hat. Da denke ich: So hat man eben im akademisch-künstlerischen Milieu in Ostberlin Anfang der 1990er-Jahre auf den Westen geschaut. Der Einblick in diese Seelenzustände ist doch gerade aufschlussreich, zeigt das Unbehagen, das Hadern mit dem Westen, das bis heute nicht verschwunden ist. Die Frage, die man stellen müsste, wäre: Ist das eine glaubwürdig dargestellte Person? Und man sollte sicherlich auch nicht von einer literarischen Figur eins zu eins auf die Autorin schließen.„Die Zeit“ verglich manche Stellen mit dem „Schwarzen Kanal“, der DDR-Propagandasendung. Auch der ostdeutsche Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hat Erpenbeck kritisiert.Ja, weil der Osten eben ein politisiertes Diskursfeld ist, wo sich vieles nur als Kampf um Deutungen darstellt. Das hat mit der Literatur erst einmal wenig zu tun, verschiebt alles auf eine andere Ebene. Jeder, der sich an dieser Debatte beteiligt, merkt, wie viel Emotion da im Spiel ist, wie tief die Gräben sind. Es wird selten differenziert, es ist eine Diskussionskultur des Rechthabens, oft geprägt von persönlichen Angriffen und Infragestellungen. Das ist in Teilen auch nachvollziehbar. Aber mich als Soziologen interessiert, wie sich gesellschaftliche Unwuchten verstehen lassen und worauf sie zurückzuführen sind. Den Impuls der moralischen Empörung muss ich da zurückstecken. Ich hoffe manchmal, dass wir weiterkommen und lernen, genauer hinzusehen. Dass die DDR eine Diktatur und ein Unrechtsstaat war, sollte nicht infrage stehen. Wenn das klar ist, könnte man eigentlich zu nuancierteren Bildern kommen, jenseits der ganz großen Karos.Placeholder image-2Es gab im Osten kein ’68, sagen Sie, die öffentliche Abrechnung mit den Autoritäten, auch mit der Rolle der eigenen Eltern und Großeltern in der DDR fiel aus. Aber privat kam das schon vor.Ich glaube, da ist vieles noch unter den Teppich gerutscht. Die Leute waren nach 1990 häufig sozial und ökonomisch schon ziemlich geschunden. Und deswegen hat man sie vielleicht ideologisch-politisch sanfter behandelt, als man das sonst getan hätte. Die 68er im Westen sind gegen Autoritäten in Universitäten, in den Medien, in der Politik angelaufen.Aber diese Autoritäten waren ja im Osten gar nicht mehr da.Ja, die Leute saßen nicht mehr auf ihren Pöstchen und in ihren Sesseln und Akademien, sondern die standen häufig genug auf dem Arbeitsamt in der Schlange. Außerdem war klar: Man macht das unter den Augen einer westdeutschen Öffentlichkeit. Die ostdeutsche ist ja mit dem Beitritt zusammengebrochen. Und wir sind sofort in eine Stasi-Debatte hineingelaufen. Man hat sehr schnell abgeurteilt, schwarz-weiß, ohne Grauzonen. Verständlich aus Opferperspektive. Aber viele Leute haben dann ein privates Narrativ als Gegennarrativ zu dieser offiziösen Form der Geschichtsschreibung geschaffen.„Die Stasi-Aufarbeitung kam bei den Leuten nicht so richtig an. Jetzt wundert man sich, dass die Leute zum Teil einem DDR-Bild verhaftet blieben, das an der Realität vorbeigeht“Weil in der Öffentlichkeit schon immer klar war, wie die DDR zu verstehen ist?Ja, die Diskurse waren sich da völlig einig. Und es waren ja auch nur wenige in der Debatte überhaupt satisfaktionsfähig. Und dann haben die Leute im Prinzip dicht gemacht und versucht, privat eine Art von Gegenbild zu entwerfen, wo die DDR in gewisser Weise auch beschönigt und rosarot gezeichnet wird. Das steht in unmittelbarem Zusammenhang. Und es gab eine professionelle Aufarbeitung, die stark aus der Bürgerrechtsbewegung kam. So eine Art mandatierter und finanzierter Aufarbeitung von oben, die bei den Leuten nicht so richtig angekommen ist. Das hat Ilko-Sascha Kowalczuk auch immer wieder mal kritisiert, dass man nicht Aufarbeitung am Volk vorbei machen kann. Das wurde viel zu wenig reflektiert und man wundert sich jetzt, dass die Leute zum Teil einem DDR-Bild verhaftet bleiben, das an der Realität vorbeigeht.In Familien wurde nächtelang am Küchentisch darüber geredet, wie die Eltern das Leben in der DDR, ihre eigene Rolle sahen, die Kinder haben das hinterfragt und auch teilweise kritisiert.Ja, privat ist das sicherlich hier und da passiert, aber viel zu wenig. Auch in den Erinnerungsdiskursen wurde sich nicht in einem Prozess gemeinsam irgendwohin bewegt, sondern die Leute wurden belehrt, wie sie das zu sehen haben. Es geht mir nicht um eine Weichzeichnung oder Post-Rehabilitation des Ostens, sondern um die Frage: Wie sieht eigentlich ein gelingender Diskurs im Hinblick auf solche Aufarbeitungsfragen aus?Dirk Oschmann entfachte zuletzt eine Ost-West-Debatte. Warum distanzieren Sie sich von ihm?Ich halte die Grundthese, dass der Westen den Osten gezielt kleingemacht hätte und sich alles darauf zurückführen ließe, in dieser extremen und polemischen Form für wenig belastbar. Es war von Anfang an ein auch strukturell asymmetrisches Verhältnis. Wir sind ungleich vereint, mit einem kollabierenden, ökonomisch schwachen und auch politisch-moralisch desavouierten Staat – und einer Gesellschaft, die bereit war, schnell einen Beitritt zu einer viel größeren Gesellschaft zu realisieren. Der Westen dominiert den Osten. Kaum verwunderlich, wenn man schaut, wie viele Leute noch in den ostdeutschen Bundesländern leben: 13,5 Millionen, so viel wie in Bayern, viel weniger als in NRW. Für den Westen war das so, als ob der Hund so ein bisschen mit dem Schwanz wedelt. Im Osten ist diese Leitcodierung Ost und West immer noch sozial aufgeladen.Welche Leitcodierung?Die Frage, wo man herkommt. Wenn jemand in Brandenburg ein Haus kauft, wird sofort gefragt: Kommt der aus dem Osten oder Westen? Und im Westen kann man gar nicht mehr sehen, dass der Osten eigentlich anders ist. Klar, mit der AfD hat sich das noch mal verändert. Aber die meisten Westler sagen: Ich weiß gar nicht, wo eigentlich euer Problem ist. Wir sind doch alle gleich! Und dann sagen die Ostdeutschen: Nein, es gibt auch Unterschiede. Das ist natürlich eine doppelte Kränkung, wenn die Unterschiede, die man selber für relevant hält, von anderen negiert oder ignoriert werden. Und dasselbe bezieht sich ja auch auf den ganzen Einigungsprozess. Der ist für die Westdeutschen abgeschlossen und historisiert. Für die Ostdeutschen ist er eine offene Wunde. Die AfD nutzt das und instrumentalisiert das natürlich für sich.Wie kann sich das ändern?Man kann nicht zurück auf Null. Ich sehe mich auch nicht als Therapeuten. Ich möchte, dass wir verstehen, was da vorgeht. Bestimmte Ost-West-Unterschiede werden sich normalisieren. So wie das Saarland heute immer noch anders ist und Bayern Eigenarten hat, über die man die Stirn runzeln kann. Aber es wird im Osten auf Dauer eine andere Form von politischer Kultur und Politisierung geben, die man mit ihren problematischen Seiten natürlich auch benennen muss.Worin besteht diese eigene politische Kultur im Osten?Die Landtagswahlen im Herbst werden womöglich zu einer weiteren Art der Entzweiung des politischen Systems führen. Die Linke könnte im Westen keine Rolle mehr spielen, im Osten aber noch in allen Landtagen vertreten sein. Das Bündnis Sahra Wagenknecht wird womöglich im Westen in kein Landesparlament kommen oder gerade so, aber im Osten sicher in alle, vielleicht sogar zweistellig. Stand jetzt wird die AfD im Westen im Durchschnitt nur halb so groß sein wie im Osten, wo wir einzelne Landkreise haben, in denen es bis zu 40 – 45 Prozent hochgehen kann. Die Grünen und die FDP fliegen möglicherweise aus den ostdeutschen Landtagen raus. Sie blieben dann reine Westparteien. Es würde in der Summe darauf hinauslaufen, dass in allen Ostbundesländern ein anderes Parteienensemble und völlig andere Koalitionen und Konfliktfronten entstehen. Und ganz andere Bündniszwänge. Vor allem die rechte und autoritäre Drift im Osten muss uns alle alarmieren, weil hier Kräfte in die erste Reihe rücken, die die liberale Demokratie zersetzen möchten, rassistische Parolen verbreiten und faschistisches Vokabular nutzen. Das verändert die gesamte politische Kultur.„SPD und CDU konnten nie so richtig Fuß fassen. Heute sind nur 0,8 Prozent der ostdeutschen Wahlbevölkerung Mitglied einer Partei“Politiker:innen, denen in ostdeutschen Kommunen vertraut wird, sind bodenständig: Kfz-Meister, Handwerker, Friseurinnen.Ja, die sozialen Leitfiguren sind oft Leute aus der Arbeiterschaft oder handwerklichen Berufen, die dann vielleicht Listen gründen, Vereine, Protestinitiativen. Oder die sich von der AfD aufstellen lassen. Die demokratischen Parteien wie die SPD und die CDU waren ja alle irgendwann mal da und haben Wahlerfolge errungen, aber sie konnten nicht wirklich Fuß fassen. Heute sind nur 0,8 Prozent der ostdeutschen Wahlbevölkerung Mitglied einer Partei.Sie schlagen Bürgerräte vor, in denen möglichst alle Schichten vertreten sein sollten.Da werden sehr unterschiedliche Leute zufällig und per Los hineingewählt. Sie können Themen bearbeiten, die sie beschäftigen, die sie ändern wollen und für politisch relevant halten.Wie können Bürgerräte mehr sein als Alibiveranstaltungen?Es müsste in der Landesverfassung oder auch im Grundgesetz eine Festlegung geben, diese Bürgerräte ernst zu nehmen und deren Forderungen in die Gesetze einfließen zu lassen. Ich kann mir sogar gemischte Kammern oder gemischte Parlamente für ausgewählte große politische Fragen vorstellen: Da sitzen 100 Leute drin, 50 sind gewählt, 25 kommen aus dem Bundesrat, 25 aus dem Bundestag. Da wäre die klassisch mandatierte Politik beteiligt und gleichzeitig würde sie durch die anderen Teilnehmer:innen ergänzt werden.Kann man so die Leute von der AfD wegholen?Das Verfahren ist zumindest immun gegen den Vorwurf: elitengetrieben oder „die da oben“. Aus eigener Forschung wissen wir, dass radikale Meinungen in solchen Kontexten eingehegt und pazifiziert werden können. Man sucht ernsthaft einen Kompromiss, aber ohne Polarisierungsunternehmer wie die AfD, die solche Positionen anheizen und verstärken. Ostdeutschland könnte eine Art Probebühne dafür werden.So was könnte der Westen auch gebrauchen, stimmt‘s?Ja, es muss auch eine Demokratieentwicklung des Westens geben, denn auch hier gibt es eine Erosion der Parteien als Mitgliederorganisationen. Wenn es im Osten gut funktioniert, dann wäre das ein Argument, zu sagen: Okay, im Osten gibt es noch diese starke basisdemokratische Tradition. Die Zeit der Runden Tische war eine tolle demokratische Zeit, weil der Aufbruch da war. Daran könnte man anknüpfen. Wenn etwas davon auch in den Westen kommt, dann ist die Vereinigung auch im Hinblick auf Demokratieentwicklung nicht nur so eine einseitige Sache. Sondern der Osten hat dem Westen auch was mitzubringen.
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