Auschwitz-Prozess: Für die bundesdeutsche Justiz ist das Nürnberger Tribunal kein Maßstab
Zeitgeschichte 1963 20 Jahre nach dem Zusammenbruch des NS-Staates gibt es 1963-65 in Frankfurt/Main einen Prozess, bei dem Angehörige des Wachpersonals aus dem KZ Auschwitz angeklagt sind. Die Adenauer-Regierung wollte NS-Täter integrieren, nicht bestrafen
Die Angeklagten Wilhelm Burger, Josef Erber, Gerhard Neubert (vordere Reihe v.l.n.r.)
Foto: Roland Witschel / picture-alliance / dpa
Was in Auschwitz geschah, war so ungeheuerlich, dass es der rechtlichen Beurteilung und Ahndung spottete. Von vornherein stand die Frage im Raum, ob nach geltendem Recht verfahren werden könne, das für eine solche Hölle nicht geschaffen worden war. Sollte neues Recht gesetzt werden? Dann musste es rückwirkend gültig sein, was der tradierten Rechtsauffassung widersprach.
Die alliierten Kläger in den Nürnberger Prozessen sahen keinen anderen Weg. Sie fragten nach Verbrechen against humanity, was in deutschen Dokumenten verharmlosend mit „gegen die Menschlichkeit“ übersetzt wird, eigentlich aber „gegen die Menschheit“ meint. Wie dieser neue Begriff definiert wurde, zeigt noch einmal die Schwierigkeit. Im Londoner Statut von 1945 w
r Statut von 1945 wird aufgezählt: „unter anderem: Mord, ethnische Ausrottung, Versklavung, Deportation und andere unmenschliche Akte gegen die Zivilbevölkerung oder: Verfolgung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven; unabhängig davon, ob einzelstaatliches Recht verletzt wurde“. An der Leerstelle „und andere unmenschliche Akte“ wird deutlich, dass sich der Sachverhalt dagegen sträubt, unter einen allgemeinen Begriff subsumiert zu werden.Das Römischen Statut von 1998Später, im Römischen Statut von 1998, der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC), ist von „anderen unmenschlichen Handlungen“ die Rede, „mit denen vorsätzlich große Leiden oder eine schwere Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit oder der geistigen oder körperlichen Gesundheit verursacht werden“. Es trat aber erst 2002 in Kraft. Indessen war die Definition von 1945 für die Nürnberger Prozesse hinreichend, da dort nur Vertreter der obersten politischen, militärischen und propagandistischen Führung Nazideutschlands vor Gericht standen. Sie hatten, ohne sich die Hände privat schmutzig zu machen, die ganze Maschinerie von Auschwitz vorbereitet, organisiert und in Gang gesetzt.Die 1949 gegründete westdeutsche Bundesrepublik ging den Weg der Alliierten nicht mit. Hier wurde unterstellt, Nazideutschland sei nur insofern ein Unrechtsstaat gewesen, als Recht zwar immer noch so gegolten habe wie vorher in der Weimarer Republik, die Rechtsübertretung aber häufig nicht verfolgt worden sei, sodass man dies nun nachholen müsse. Im ersten Frankfurter Auschwitzprozess, der am 20. Dezember 1963 begann, ging es deshalb nicht um Verbrechen gegen die Menschheit, sondern ermittelt wurde nur, ob jemandem Mord oder Beihilfe zum Mord nachgewiesen werden konnte.Hans Globke wird Chef des KanzleramtsIm Übrigen bestand in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Krieg keine große Neigung, sich überhaupt mit der Sache zu befassen. Die Bevölkerung war mehrheitlich der Meinung, es müsse ein „Schlussstrich“ gezogen werden – dabei hatte eine Aufarbeitung nicht einmal begonnen. Die Regierung wiederum wollte die Nazis integrieren statt verfolgen, was dazu führte, dass der christdemokratische Kanzler Konrad Adenauer einen Mitverfasser der Nürnberger Rassengesetze von 1935, Hans Globke, zum Chef des Bundeskanzleramts machte. Die Politik der oppositionellen SPD war freilich entgegengesetzt, was der Verfasser dieser Zeilen bezeugen kann. So wurde ihm und den Mitschülern schon bald nach dem Eintritt ins Gymnasium der Film Nacht und Nebel vorgeführt (Regie: Alain Resnais), der die Zustände in Auschwitz und anderen deutschen Konzentrationslagern dokumentiert. Das geschah im sozialdemokratisch regierten Westberlin, während die Regierung in Bonn eine Teilnahme des Films an den Filmfestspielen von Cannes verhindert hatte.Der deutsch-schwedische Schriftsteller nannte sein Drama, das dem damals zeitgenössischen „Dokumentationstheater“ zuzurechnen ist, ein „Oratorium in 11 Gesängen“, womit er auch auf das Inferno in Dantes Divina Commedia (1321) anspielt, die ebenfalls in „Gesänge“, canti, unterteilt ist. Weiss verdichtete die vielen Aussagen und Dispute vor Gericht wirkungsvoll zu Einzelszenen, die für das Ganze stehen, veränderte dabei kaum den Wortlaut, außer dass er Verse daraus machte, und verzichtete auf jegliches Beiwerk wie Gestik, Standortwechsel oder Emotion bei der Darstellung. So blieb nur, dass man beim Zuhören die pure Faktizität dessen, was in Auschwitz geschah, zur Kenntnis nahm. Nur eines, das vielleicht Emotion genannt werden kann, steht einige Male im Text, nämlich dass die Angeklagten „zustimmend lachen“ – ein Höllengelächter –, nachdem ihr Verteidiger etwa gesagt hat, die Ankläger seien „mit einer vorgefassten Meinung / in diesen Prozess gegangen“.Placeholder image-1Auch in Hessen, wo der Auschwitzprozess stattfand, regierte die SPD. Welche Rolle dabei der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer spielte, ist durch den Film Der Staat gegen Fritz Bauer (2015) weithin bekannt geworden. Es war der jüdische Sozialdemokrat Bauer, der 1959 erreicht hatte, dass die Strafsache dem Landgericht Frankfurt am Main übertragen wurde. Er wollte etwas dafür tun, dass der deutschen Bevölkerung das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen bewusst wurde. Langwierige Ermittlungen gegen Angehörige der SS-Wachmannschaft konzentrierten sich schließlich auf 22 Personen, die im Prozess angeklagt wurden. Man mag eine Symbolik darin sehen, dass knapp zwei Monate vor dessen Beginn Globke in den Ruhestand getreten (1. Oktober) und Adenauers Kanzlerschaft zu Ende gegangen war (15. Oktober). Sicher ist, dass dieser Prozess eine Wende der NS-Aufarbeitung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit herbeiführte. Nach seinem Ende war es mit der Bevölkerungsmehrheit für den „Schlussstrich“ vorbei. Es spielte eine wichtige Rolle, dass die Zeugenvernehmung unmittelbar nach Prozessende auf die Bühne gebracht wurde. Nachdem am 19. und 20. August 1965 die Urteile verkündet worden waren, konnte Die Ermittlung von Peter Weiss schon am 19. Oktober in 15 west- und ostdeutschen Theatern (wie auch in London) uraufgeführt werden.Die Erinnerung an Dante hilft indes nicht weiter, wenn es um den Versuch geht, die Verbrechen gegen die Menschheit im 20. Jahrhundert zu begreifen. Was in Dantes Hölle geschieht, begreift man sehr wohl: Da werden Personen vorgeführt, deren böse Taten im Leben insofern adäquat bestraft werden, als die Strafen in der Hölle eigentlich nur das, was in den Taten selbst als böse Rückwirkung auf die Täter schon liegt (nach der Lehre des Apostels Paulus), symbolisch überhöhen. Was in Auschwitz geschah, ist ja aber keine Bestrafung und noch weniger ein Symbol für irgendetwas. Schon wenn die Verdammten nachts ankamen, nach der Fahrt in den Viehwaggons, wo sie auch ihre Notdurft verrichten mussten, neben immer mehr Kranken und Leichen, begann es damit, dass geschrien wurde: „Los raus schnell / Es waren anderthalb Meter herab zum Boden / Da lag Schotter / Die Alten und Kranken fielen / in die scharfen Steine“. Der Angeklagte, er war Vorstand im Bahnhof von Auschwitz gewesen, hatte zur Zeit des Prozesses „eine leitende Stellung / in der Direktion der Bundesbahn“. Er sagt: „Ich hatte keine Zeit / mir den Inhalt der Züge anzusehn“. So geht es das ganze „Oratorium“ hindurch weiter, mit immer grausigeren Geschehnissen, an denen nichts verständlich ist. Für die Häftlinge endet jeder Tag „in grauenvoller Angst vor dem nächsten Tag“, wie ein Aufsatz von Peter Reichel zusammenfasst.Vier FreisprücheIm Drama von Weiss kommt vor, dass die Gefangenen für die IG Farben, Krupp und Siemens arbeiten mussten – und das muss ja wohl gesagt werden. Weiss aber, wie man lesen konnte, zu unterstellen, er habe Auschwitz auf nichts als den Kapitalismus zurückführen wollen, wird ihm nicht gerecht. Er lässt zwar einmal einen Vertreter des Widerstands im Lager sagen, man habe dort die Ordnung „in ihrer letzten Konsequenz“ erlebt, „in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad / seine Herrschaft entwickeln durfte“. Aber es ist in allen Szenen ganz klar, dass kein nachvollziehbarer Weg von solcher Herrschaft zur sadistischen Fantasie der Lagerleitung und des Wachpersonals führt. Von dem gesagt wird: „Und doch sind es die gleichen Menschen / wie sie dort Häftling und Bewacher waren“.Wie kommt es, dass Weiss auf jede Interpunktion verzichtet, sodass die Fragen der Vernehmer gesetzt sind wie die Antworten der Vernommenen? Sollte es daran liegen, dass auch der antike Bibeltext, wenn Jahwe fragt, „Adam, wo bist du“ oder „Wer hat euch verraten, dass ihr nackt seid“, so etwas wie Fragezeichen nicht kennt?Sechs Angeklagte kamen lebenslang ins Zuchthaus, zehn erhielten Zeitstrafen, vier wurden mangels Beweisen freigesprochen, zwei waren vor Prozessende wegen Krankheit ausgeschieden. Die Urteile galten, wie gesagt, nur dem Morddelikt. Die Wirkung auf die Öffentlichkeit – am meisten auf jene, die als „68er“ wenig später ihre antikapitalistische Revolte begannen – ging aber mehr vom mitgeteilten Grauen des Lageralltags aus.
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