Manfred Moslehner droht die Zwangsräumung: Die Hoffnung eines 84-jährigen Mannes
Gentrifizierung Seit mehr als 5.000 Tagen kämpfen die Mieter am Steinberg in Berlin-Reinickendorf gegen ihre Verdrängung. Viele, wie der 84-jährige Manfred Moslehner, sind hier aufgewachsen. Jetzt hilft ihnen der Verein Sanktionsfrei
Schon Ton Steine Scherben wussten: Manne kriegt ihr hier nicht raus!
Foto: Volkmar Otto
Herr Moslehner lebt auf Abruf. Fahrrad fahren geht nicht mehr. Warmwasser auch nicht. Schlafen nur manchmal. Der Warmwasserboiler ist kaputt. Herr Moslehner schaut von seinem Kreuzworträtsel auf: „Also gibt’s gerade nur kaltes Wasser und Katzenwäsche.“ Und das Fahrradfahren? Ging bis vor Kurzem noch. „Eines Tages dann plötzlich nicht mehr, der Körper macht das nicht mehr mit. Seit der Kündigung.“ Die Kündigung, die besagt, dass er sein Zuhause verlieren soll.
Herr Moslehner ist 84 Jahre alt, hager, still. An einem sonnigen Sonntagnachmittag Anfang Mai sitzt er unter einem kleinen roten Pavillon in einem weißen Plastesessel mit Kissen, auf dem Schoß das Rätselheft, auf einem Tischchen stehen Kaffee und Kekse bereit. E
bereit. Er ist nicht allein. Zwei weitere Männer haben im Pavillon Platz genommen: Hartmut Lenz, 72, und Olaf Prigge, der erst Ende 50 und damit hier so etwas wie der Jungspund ist.Der Pavillon und die ihn flankierenden Protestschilder sind dort aufgebaut, wo „Kehrwieder“ und „An der Heide“ sich kreuzen. In der Kleinhaussiedlung am Steinberg im Berliner Stadtteil Reinickendorf heißen die Straßen so: Am Brunnen und Am Rosensteg, Kehrwieder und An der Heide. Das winzige Viertel mit den denkmalgeschützten Häuschen: ein von viel Grün umgebenes Kleinodium am Rand der großen Stadt, von seinen Bewohnern liebevoll „Kleinkleckersdorf“ genannt. „So schön haben Sie es hier“, schwärmt eine Spaziergängerin, die vor dem Pavillon stehen geblieben ist. „Aber die wollen Sie loswerden, was? Wegen Geld.“So wie die Spaziergängerin kann man das wohl sagen. Die, die Herrn Moslehner, Hartmut Lenz, Olaf Prigge und noch einige andere alteingesessene Anwohner loswerden wollen, das ist die Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbh, die hier seit 14 Jahren ihr Unwesen treibt. 1920 waren die Kleinhäuser vom Bezirksamt errichtet worden, zur erschwinglichen Miete für Arbeiterfamilien, darunter die Eltern von Manfred Moslehner. Er wurde hier geboren – Hausgeburt mit Hebamme – und hat sein gesamtes Leben hier verbracht. 2010 verkaufte das einstmals öffentliche und dann unter Zutun von CDU, SPD und PDS beziehungsweise Linkspartei privatisierte Wohnungsunternehmen GSW die Siedlung an die Entwicklungsgesellschaft.4.000 Euro KaltmieteSeitdem ist am Steinberg nichts mehr so, wie es mal war. Gut 5.100 Tage sind vergangen – an knapp 4.500 davon haben die Altmieter demonstriert. Dagegen, dass sie verdrängt werden; dagegen, dass unter dem Vorwand angeblich notwendiger Modernisierungen Luxussanierungen vorgenommen und die Mieten derartig erhöht werden, dass keiner der Alteingesessenen sie sich noch leisten kann. Sie zahlen nach Berliner Mietspiegel – in den sanierten, verkauften und neu vermieteten Kleinhäusern werden Kaltmieten von mehr als 4.000 Euro verlangt. „Erpresserisch“ nennt Hartmut Lenz die Modernisierungsvorstellungen der Entwicklungsgesellschaft. Niemand hier sei grundsätzlich dagegen, dass etwas in den Häusern gemacht werde. „Aber nicht so, dass die Bestandsmieter nicht bleiben können.“ Herr Moslehner zum Beispiel hat als Maschinenschlosser gearbeitet und muss mit knapp 1.000 Euro monatlicher Rente auskommen.„Am Anfang haben wir immer nur demonstriert, wenn wieder ein Brief mit irgendeiner Ankündigung reinflatterte. Als wir gemerkt haben, die geben nicht auf, haben wir das Zelt angeschafft“, sagt Hartmut Lenz, der als Sprecher der Mieterinitiative am Steinberg fungiert. Auch er wohnt schon ein Leben lang hier, seine Großeltern waren 1920 Erstbezieher, seine Mutter Anni Lenz kämpfte bis zu ihrem Tod im Dezember 2016 gegen die Verdrängung und gab als „Oma Anni“ auf Plakaten der Linkspartei Berliner Mietern ein Gesicht. Hier an der Kreuzung vor dem Kleinhaus, das seit drei Generationen von Lenzens bewohnt wird, haben die Mietrebellen gegengehalten und durchgehalten, jahrelang haben sie sieben Tage die Woche von 10 bis 18 Uhr demonstriert, sie haben Feste gefeiert, sie waren dabei, als unter Polizeiaufgebot eine 13 Meter hohe Tanne gefällt wurde, die die Entwicklungsgesellschaft als Mittelpunkt ihrer renitenten Gemeinschaft ausgemacht hatte. Sie haben vieles gelernt – zum Beispiel, wie Olaf Prigge sagt, dass Recht nicht immer Gerechtigkeit bedeutet.Und sie versuchen weiterzumachen. Doch seit drei Monaten schaffen sie es nur noch an drei Tagen in der Woche, die Schichten im Pavillon zu belegen. 20 von 38 Kleinhäusern sind bereits entmietet, 18 noch von Bestandsmietern bewohnt. Die aber sterben nach und nach, das Durchschnittsalter ist hoch, andere sind gesundheitlich zu angeschlagen, um weiterzukämpfen. Oder sie halten den Druck nicht aus, geben auf und ziehen weg. Den Psychoterror ständiger Vermieterpost, Forderungen, An- und Aufkündigungen, der auch Herrn Moslehner zu schaffen macht, der nicht mehr Fahrrad fahren kann und oft nachts keine Ruhe findet. Über die vergangenen Jahre hat sich einiges angesammelt. „Kündigungen hatten wir schon viele hier“, sagt Hartmut Lenz. Gerichtsprozesse auch.„Dutzende Prozesse“, bestätigt Sebastian Bartels, Mietrechtsanwalt und Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, der den Fall seit Langem verfolgt. Wegen unrechtmäßiger Mieterhöhungen, falscher Betriebskostenabrechnungen und eben der Modernisierungspläne. Ein Fall ging sogar bis vor den Bundesgerichtshof. Gerade die früheren Verfahren gingen zugunsten der Mieter aus – zu offensichtlich dienten die Pläne, die die Entwicklungsgesellschaft durchdrücken wollte, dem Luxusumbau und damit der Verdrängung. Inzwischen aber hat sie die Strategie geändert und „die Modernisierungsanforderungen zurückgeschraubt“, so Bartels. Vor diesem Hintergrund wurde Manfred Moslehner im September 2021 letztinstanzlich die Duldung von Modernisierungsarbeiten auferlegt. Weil die Entwicklungsgesellschaft ihm vorwirft, dies nicht getan zu haben, erhielt er 2023 eine Kündigung und schließlich, kurz vor Weihnachten, flatterte eine Räumungsklage rein.Damit hat die jahrelange Auseinandersetzung eine neue Stufe erreicht. Eine Räumung gab es bisher nämlich noch nicht hier am Steinberg. Hartmut Lenz sagt: „Sie haben sich mit Manne das schwächste Glied in der Kette rausgesucht, um einen Präzedenzfall zu schaffen.“ Dieser Verdacht liegt in der Tat nahe. Ein weiteres von einem Bestandsmieter, 85 Jahre alt, bewohntes Kleinhaus wird derzeit bei Immobilienscout inseriert – Besichtigungen könnten „selbstverständlich vereinbart werden“, heißt es dort. Die Anzeige wurde am 29. April geschaltet.4.500 Tage ProtestKurz zuvor, am 22. April, hatte das Amtsgericht Wedding in der Räumungsklage zugunsten der Entwicklungsgesellschaft geurteilt. Einen Härtegrund wollte es nicht gelten lassen, obwohl der Sozialpsychiatrische Dienst Herrn Moslehner ein reaktiv-depressives Syndrom bescheinigt hat. In der Urteilsbegründung heißt es, sein Leiden habe wahrscheinlich schon mit Beginn der Auseinandersetzung, also vor Jahren, begonnen und hätte vorher mitgeteilt werden müssen. Der 84-Jährige sei nun verpflichtet, sein Zuhause innerhalb von drei Monaten herauszugeben, so das Urteil. Zudem sei es „vorläufig vollstreckbar“ – das bedeutet, die Räumung kann jederzeit durchgesetzt werden, noch bevor eine mögliche Berufung entschieden ist. Um die vorläufige Vollstreckbarkeit auszusetzen, bliebe nur noch, 4.279 Euro als „Sicherheitsleistung“ bei Gericht zu hinterlegen. Eine Summe, die keiner der Altmieter in der Steinbergsiedlung übrig hat.Da kam Helena Steinhaus ins Spiel. Die 36-Jährige sitzt an einem Donnerstagvormittag in ihrem Büro in Berlin-Neukölln, am anderen Ende der Stadt. Steinhaus ist die Gründerin von Sanktionsfrei, einem Verein, der Bürgergeld-Empfänger und von Armut betroffene Menschen unterstützt. Die Mieter aus der Steinbergsiedlung und ihren Kampf kannte sie bis dato nicht. „Ich habe morgens in der Zeitung von dem Urteil gegen Manne gelesen und war schlicht empört.“ Kurzerhand startete Steinhaus eine Spendensammlung über die sozialen Medien, um die 4.279 Euro zu sammeln, die Manfred Moslehner, wenigstens solange ein Berufungsverfahren läuft, vor der Räumung bewahren. Die Resonanz war groß, in wenigen Stunden kam mehr als das Dreifache zusammen. „Weil die Geschichte uns alle angreift“, sagt Helena Steinhaus. „Man fragt sich wirklich, wie es sein kann, dass die Politik die Menschen vor so etwas nicht schützt.“Der Fall ist aber nur die Spitze des Eisbergs. Viele Zwangsräumungen passieren im Stillen. Anfang Mai teilte die Berliner Justizverwaltung mit, dass deren Zahl erneut gestiegen ist, auf fast 2.400 im Jahr 2023; 2022 hatte es 1.931 Zwangsräumungen gegeben, bundesweit 27.000. Sebastian Bartels vom Mieterverein sieht in der Steinbergsiedlung einen speziellen Fall – einerseits. „Weil wir es mit sehr alten Menschen in einem Randgebiet zu tun haben.“ Anderseits sei er „auch ein Spiegel dessen, was in Berlin abgeht, denn es gibt typische Merkmale einer Modernisierungsverdrängung, die wir aus vielen anderen Berliner Mietshäusern kennen“.Dass der Fall Moslehner öffentlich bekannt wurde, ist nicht zuletzt dem unermüdlichen Protest der Mieter am Steinberg zu verdanken. Hätten sie sich nicht so hartnäckig gewehrt, wären die Alteingesessenen wahrscheinlich längst weg aus der Siedlung.Aber: Können sie denn noch, nach so vielen Jahren? „Wir müssen“, sagt schulterzuckend Olaf Prigge, der im kleinen roten Pavillon sitzt. Und Herr Moslehner? Der will eigentlich nur seine Ruhe haben und die letzten Lebensjahre dort verbringen, wo er schon immer gewohnt hat, mit den Nachbarn, die er zum Teil seit frühester Kindheit kennt und ohne die er niemanden mehr hätte. Ein bisschen hofft er noch. Auf die Berufung vor dem Landgericht. Auf den Zusammenhalt, der sich zeigte, als so viele fremde Menschen Geld für ihn spendeten. „Solche Solidarität übermannt einen dann doch, oder?“, sagt Hartmut Lenz und schaut Herrn Moslehner fragend an. Der blickt erneut von seinem Kreuzworträtsel auf – und nickt. Und sagt, dass er außerdem hoffe, bald wieder mit dem Fahrrad fahren zu können.
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