Wiederaufbau der Ukraine: Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten
Ukraine Der Wiederaufbau des kriegsversehrten Landes wird in den kommenden zehn Jahren circa 500 Milliarden Dollar verschlingen. Der Westen frohlockt mit großzügigen „Hilfen“. Im Gegenzug muss sich Kiew bloß westlichen Kapitalinteressen unterwerfen
Ausländische Investoren, hereinspaziert! Blick auf Kiew von der Kolossalstatue „Mutter Ukraine“ aus
Foto: Rafal Milach/Magnum Photos/Agentur Focus
Eine Drohne fliegt über Kiew, dann schweift der Blick über Felder, Kraftwerke, Fördergruben, dazu eine sanfte Männerstimme: „Der Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg wird das größte Projekt des 21. Jahrhunderts.“ Weiter heißt es: „Die Nachkriegsukraine ist ein Land unbegrenzter Möglichkeiten für Investoren.“ Doch schon heute biete sie jede Menge Vorzüge für Unternehmen und Geldgeber, erklärt die Stimme aus dem Off: „Wenn Sie sich also fragen, wann der beste Zeitpunkt ist, um in die Ukraine zu investieren, lautet die Antwort: genau jetzt.“
Das kurze Video des ukrainischen Wirtschaftsministeriums findet sich auf der offiziellen Website der Ukraine Recovery Conference, der dritten Wiederaufbaukon
raufbaukonferenz, die Mitte Juni in Berlin tagte. Neben hochrangigen Politikern aus der Ukraine, den EU-Staaten, den USA oder Japan diskutierten dort multilaterale Gläubiger wie der IWF, die Weltbank oder die Europäische Investmentbank mit Managern diverser internationaler Unternehmen. Darunter: Bayer, Siemens Energy und Rheinmetall. Es ging um die Zukunft des Landes nach dem Krieg. Und um jede Menge Geld.Schon bei den Vorgängerveranstaltungen in Lugano 2022 und London 2023 hatte sich abgezeichnet, dass die Architektur einer Nachkriegsordnung in der Ukraine in erster Linie europäischen und internationalen Kapitalinteressen unterworfen sein würde. In Berlin formulierte es Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) in seiner Eröffnungsrede nun so: „Der Wiederaufbau der Ukraine, das ist und das muss auch ein Business-Case sein.“Der „Ukraine-Plan“ der EUKlar ist: Der Wiederaufbau des kriegsversehrten Landes wird einiges kosten. Knapp 500 Milliarden US-Dollar in den kommenden zehn Jahren, schätzte im Februar die Weltbank. Wobei das noch eine konservative Schätzung ist, schließlich gehen die Zerstörungen weiter und die Schäden in den von Russland besetzten Gebieten sind noch gar nicht einberechnet. Klar ist auch: Die Ukraine wird solche Summen niemals allein aufbringen können. Das Land war schon vor dem Krieg hochverschuldet. Seitdem ist der Staatsschuldenberg weiter gewachsen, auf 110 Milliarden US-Dollar – das entspricht einer Schuldenquote von über 90 Prozent. Die Ukraine ist entsprechend abhängig von der internationalen Gebergemeinschaft.Allein die EU und ihre Mitgliedstaaten haben seit Kriegsbeginn gut 140 Milliarden Euro an Finanzhilfen zugesagt – und mit der Aufnahme der Ukraine als Beitrittskandidatin bereits im Juni 2022 deutlich gemacht, dass sie einen Wiederaufbau des Landes zu ihren Bedingungen anstreben. Ihre „Hilfe“ lässt sich die EU teuer bezahlen: Zum größten Teil handelt es sich um Kredite, die samt Zinsen irgendwann zurückgezahlt werden müssen. Über eine Entschuldung oder die Frage, ob statt Krediten eher Zuschüsse gewährt werden müssten, schweigen die Geber eisern.Obendrein sind die „Hilfen“ an Reformen geknüpft. Das unterstrich Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf der Berliner Recovery Conference, als sie feierlich die Auszahlung einer neuen Tranche aus dem Topf der „Ukraine-Fazilität“ bekannt gab, die 50 Milliarden Euro für das Land bereithält. Die Auszahlung von 1,9 Milliarden Euro könne sie gleich hier verkünden, so von der Leyen: „Und zwar wegen der umfassenden Reformen und Investitionsstrategien, die die Ukraine verabschiedet hat.“ Diese Reformen folgen dem sogenannten Ukraine-Plan, einer von der ukrainischen Regierung vorgelegten und Mitte Mai von der EU abgesegneten Agenda, die vor allem Strukturreformen und Investitionshilfen für „Wachstumssektoren“ sowie Modernisierungen der Verwaltung, beispielsweise vereinfachte Genehmigungsverfahren, vorsieht.Kurz: eine umfassende Marktöffnung für ausländisches Kapital.Die Rüstungsindustrie investiertDas ukrainische Parlament hat unter anderem Privatisierungsverfahren vereinfacht und die Vorschriften für Private-Public-Partnerships zugunsten von Unternehmen gelockert. Die Europäische Union hält darüber hinaus unterschiedliche Instrumente bereit, um Investitionen zu bezuschussen oder abzusichern und Unternehmen in die Ukraine zu locken. Vertrauensbildend wirkt dabei, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj sich bereits vor dem Krieg einen Namen als neoliberaler Reformer gemacht und die Liberalisierung des Energiemarktes und des Gesundheitssektors eingeleitet hatte. Unter dem Kriegsrecht nutzte seine Regierung dann die Gelegenheit, um das Streikrecht auszusetzen und das Arbeitsrecht auszuhöhlen.Viele der Unternehmen, denen der rote Teppich ausgerollt wird, sind dennoch zurückhaltend damit, in ein Kriegsgebiet zu investieren. Wie eine aktuelle Umfrage der Beratungsfirma KPMG und der Deutsch-Ukrainischen Handelskammer unter 142 Unternehmen ermittelte, die bereits in der Ukraine tätig sind oder dies planen, haben trotz der umfangreichen Fördermittel nur 43 Prozent von ihnen vor, ihre Investitionen auszubauen. Eine Branche, die den Ruf allerdings erhört hat, ist die Rüstungsindustrie. Für sie ist die Ukraine nicht nur wegen der hohen Nachfrage, sondern auch aufgrund der durch den Krieg beschleunigten Innovationen bei Waffen interessant.Man entwickle Produkte, „die auf echten Schlachtfeldern getestet werden“, erklärte Mykhailo Bno-Airiian, der EU-Sondergesandte des ukrainischen Arbeitgeberverbandes, im Frühjahr gegenüber dem Portal Business Insider. Der Rüstungskonzern Rheinmetall eröffnete am 11. Juni, parallel zur Recovery Conference, ein Werk zur Wartung und Reparatur deutscher Panzer in der Westukraine als Joint Venture mit dem ukrainischen Staatskonzern Ukrainian Defense Industry JSC. Eine Munitionsfabrik ist ebenfalls geplant. Und auch das bayerische Unternehmen Quantum Systems eröffnete im April sein zweites Drohnen-Werk in der Ukraine.Nicht zu vergessen, dass auch die Bodenschätze, über die das Land verfügt, potenziell hochinteressant für westliches Kapital sind. 22 der 30 von der EU als „kritisch“ eingestuften Rohstoffe liegen in ukrainischem Boden – im schwer umkämpften Osten werden die größten Lithium-Vorkommen Europas vermutet. Lithium ist wesentlicher Bestandteil von Batterien in Elektrofahrzeugen. Mit einem Zugang zu diesem und anderen für die „grüne“ Transformation der Wirtschaft benötigten Rohstoffen aus der Ukraine könnte es der EU gelingen, ihre Lieferketten von Konkurrenten wie China unabhängiger zu machen.Arbeitsrechte? Nicht im Krieg!Staaten und Institutionen des Westens nehmen also viel Geld in die Hand, um die Ukraine für die eigenen Interessen zu erschließen, auch langfristig. Fragen wie etwa, was eigentlich die Mehrheit der Ukrainer braucht und wie die Lohnabhängigen wegkommen werden bei dem, was EU, Ukraine und andere Akteure gemeinsam planen, spielen im Grunde keine Rolle. Die Stimmen, die das kritisieren, sind leise. Aber es gibt sie.Über einen „selbstbestimmten Wiederaufbau“ im Interesse der Lohnabhängigen diskutierten wenige Tage vor der Recovery Konferenz, am 8. Juni, ukrainische und deutsche Gewerkschafter und Aktive aus sozialen Bewegungen im Berliner IG-Metall-Haus. Eingeladen hatten linksgewerkschaftliche Netzwerke, gekommen waren etwa 60 Teilnehmer – nicht besonders viele, wenn man bedenkt, wie lange bereits über praktische internationale Solidarität jenseits von Waffenlieferungen diskutiert wird. „Welche Arbeitsrechte? Wir haben hier Krieg!“ So fasste Artjom Tidwa, Organisator bei der kleinen linken Gruppe Sozialnyj Ruch (deutsch: soziale Bewegung) dort zusammen, mit welcher Haltung sowohl Unternehmer als auch Politiker in der Ukraine den Forderungen nach der Wahrung sozialer Rechte auch unter Kriegsbedingungen begegneten. Doch nicht alle lassen sich das gefallen.Oksana Slobodiana beispielsweise, Krankenschwester aus Lwiw, gehört der Bewegung #BeLikeNina an, die noch ein vergleichsweise ermutigendes Beispiel abgibt. #BeLikeNina hatte sich Ende 2019 gegründet, der Auslöser war ein Facebookpost der Krankenpflegerin Nina Kozlowska, in dem sie sich ihren Frust über den niedrigen Lohn, miserable Arbeitsbedingungen und Belästigungen von der Seele schrieb, unter denen die überwiegend weiblichen Beschäftigten des Sektors leiden. Der Post ging damals viral und motivierte zahlreiche Kolleginnen, sich auch offline zu vernetzen. Die Bewegung organisierte Demonstrationen, stieß eine gesetzliche Lohnerhöhung im Gesundheitswesen an und hielt die Anliegen der Krankenschwestern auch während der Coronapandemie in den Schlagzeilen.Doch als der Krieg begann, habe sich alles geändert, berichtete Slobodiana bei ihrem Besuch in Berlin vor Kolleg*innen aus der Berliner Krankenhausbewegung.Plötzlich standen humanitäre Hilfe und die Unterstützung der vielen Binnenflüchtlinge im Vordergrund. Die Aufgabe, sich gegen die russische Invasion zu verteidigen, stellt sie nicht in Frage. In den ersten Tagen des Krieges habe sie selbst Sandsäcke gepackt und Molotowcocktails gebaut. Aber dass Arbeitsrechte eingeschränkt werden, während sich Unternehmen bereichern, sei inakzeptabel. „Beim Wiederaufbau brauchen wir Beschäftigten mehr Mitsprache.“ Nur wie?Ohne Verbündete in den Ländern, deren Regierungen die Bedingungen für den Wiederaufbau diktieren wollen, bleiben Menschen wie Oksana Slobodiana oder Artjom Tidwa auf sich allein gestellt. Hier gäbe es einiges zu tun für Gewerkschaften und auch für deutsche Linke, die sich bisher vor allem für Waffenlieferungen interessieren. Dabei hat der deutsche Imperialismus in den letzten Jahren mehr als einmal bewiesen, was seine schärfsten Waffen sind: wirtschaftlicher Druck und Erpressung wegen angeblich zu hoher Staatsschulden.
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