Wiederaufbau der Ukraine: „Eigentlich bräuchte es eine große Schuldenkonferenz“
Staatsverschuldung Bei der großen Wiederaufbau-Konferenz in Berlin ist die hohe Verschuldung der Ukraine kein Thema. Zu Unrecht, sagt Kristina Rehbein. Eine Debatte über einen Schuldenerlass würde interessante Fragen aufwerfen
Selenskyj und Scholz reichen sich in Berlin die Hand: Ziel der Wiederaufbaukonferenz ist es, internationale Unterstützung sicherzustellen. Es geht weniger um konkrete Hilfszusagen
Foto: Christian Marquardt/Getty Images
Kristina Rehbein ist die Politische Koordinatorin des entwicklungspolitischen Bündnisses „erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung“. Sie ist auch Vorstandsmitglied des European Network on Debt and Development und beschäftigt sich seit 2010 mit Fragen der gerechten Entschuldung.
der Freitag: Wenn man sich das Programm der Ukraine-Wiederaufbaukonferenz, die am 11. und 12. Juni in Berlin stattfindet, anschaut, wirkt es so, als ob die Schulden des Landes gar kein Thema seien. Stimmt das?
Kristina Rehbein: Schaut man auf die Konferenzagenda, habe ich den gleichen Eindruck. Ich hoffe zwar, dass das Thema in den Diskussionen bei der Konferenz aufgegriffen wird, aber offiziell ist es nicht vorgesehen. Ich würde sogar sagen, dass die Frage der hohen Verschuldu
nzagenda, habe ich den gleichen Eindruck. Ich hoffe zwar, dass das Thema in den Diskussionen bei der Konferenz aufgegriffen wird, aber offiziell ist es nicht vorgesehen. Ich würde sogar sagen, dass die Frage der hohen Verschuldung der Ukraine im Moment eher tabuisiert wird.Aber ist das nicht ein wichtiges Thema, wenn es um Wiederaufbau geht? Allerdings. Für den langfristigen Wiederaufbau spielt die Frage der Verschuldung eine absolut zentrale Rolle. Wir reden aktuell von einer öffentlichen Schuldenquote von über 90 Prozent, Staatsschulden von 108 Milliarden US-Dollar, was sehr hoch ist. Im Moment ist das insofern noch tragbar, als eben kontinuierlich weitere Hilfen durch die Unterstützer der Ukraine bereitgestellt werden. Aber nach dem Krieg, wenn es um rasche Erholung und wirklichen Wiederaufbau geht, dann wird da dieser riesige Schuldenberg sein, der irgendwann zurückbezahlt werden muss, und der dem Wiederaufbau entgegensteht, der konservativen Schätzung zufolge 490 Milliarden US-Dollar kosten wird.Aber warum dann das Tabu, wenn die Frage der Schulden so wesentlich ist?Das Ziel der Berliner Wiederaufbaukonferenz ist es, weiterhin die internationale Unterstützung sicherzustellen. Es geht dabei weniger um konkrete neue Hilfszusagen, als darum – auch mit Blick auf die anstehenden US-Wahlen – den politischen Geist zu aktualisieren, dass man weiterhin für die Ukraine im Sinne von „whatever it takes“ einsteht.Als Land im Krieg braucht die Ukraine externe finanzielle Unterstützung, um im Krieg weiter bestehen zu können. Ein Teil der Unterstützung kommt in Kreditform. Offen über den Umgang mit der hohen und weiter steigenden Staatsverschuldung zu sprechen, könnte der Mobilisierung dieses Geldes entgegenstehen. Eine Debatte über einen Schuldenerlass könnte auch die Frage aufwerfen, ob die aktuelle Unterstützung in Kreditform wirklich richtig ist oder ob es nicht mehr Zuschüsse – vor allem aus der EU – für die Ukraine bräuchte.Was für Gläubiger hat die Ukraine denn?Während des Krieges sind es ausschließlich öffentliche Geber, die Zuschüsse oder Kredite bereitstellen. Zuschüsse kommen vor allem von den USA, sie wollen die Unterstützung also nicht zurück. Einzelne Staaten, die Kredite vergeben, sind zum Beispiel Japan oder Kanada. Vor allem sind es multilaterale Geber, allen voran die Europäische Union, die viel Geld zu günstigen Bedingungen bereitstellen, aber das meiste davon später wieder haben wollen. Auch Institutionen wie der Internationale Währungsfonds vergeben Kredite. Der IWF ist dabei sehr teuer: Die Kosten des Kredits liegen bei um die acht Prozent. Das liegt auch daran, dass der IWF Strafzinsen berechnet, da der Kredit an die Ukraine eigentlich über die Quote geht, die dem Land zusteht. Aber es gibt auch noch Schulden aus der Zeit vor dem Krieg. Hier sind vor allem private Anleger zu nennen, die bei ihrer Kreditvergabe hohe Zinsen von sieben bis acht Prozent verlangt haben.Das Problem ist: Sie müssen sich vorstellen, es gibt keinen rechtlichen Rahmen, um mit Staatsschulden umzugehen. Es gibt nicht so etwas wie ein Insolvenzverfahren, wie für Unternehmen oder Privatpersonen, wenn es ein Schuldenproblem gibt. Bei Staatsschulden ist es ein bisschen wie der wilde Westen. Da prallen sich widersprechende Ansprüche aufeinander.Welche denn?Erst einmal ist da der fundamentale Konflikt zwischen dem Anspruch der Gläubiger auf Rückzahlungen und teilweise auch noch andere Konditionen – wie Privatisierungen, Liberalisierungen des Arbeitsmarktes, wie es in der Ukraine ja schon geschehen ist, wie wir von Gewerkschaften aus der Ukraine hören. Auf der anderen Seite aber die Bedürfnisse, Interessen und Rechte der Bürger*innen eines überschuldeten Staates. Es gibt aktuell nichts, was diese beiden Ansprüche in Balance bringt. Das heißt faktisch, dass in der internationalen Schuldenarchitektur das Recht des Gläubigers entscheidend ist.Und dann sind da noch Konflikte zwischen Gläubigern: Die multilateralen Geber etwa beanspruchen normalerweise, prinzipiell aus Umschuldungen ausgenommen zu werden, während andere Gläubiger Schuldenerlasse gewähren müssen. Es ist jedoch ausgeschlossen, dass die Ukraine nach dem Krieg einfach wieder ihren Schuldendienst aufnimmt. Gerade deshalb ist es auch nicht richtig, damit zu warten, das Thema auf den Tisch zu legen, bis der Krieg in der Ukraine vorbei ist und der Wiederaufbau beginnt.Wie könnte eine Schuldenlösung für die Ukraine konkret aussehen?Die aktuellen etablierten Verfahren, die es für überschuldete Staaten gibt, sind auf keinen Fall geeignet, eine nachhaltige Lösung herzustellen. Nach dem Krieg braucht es daher eine umfassende Schuldenkonferenz, auf der sämtliche Forderungen, von vor dem Krieg und während des Krieges gemachte Schulden, gemeinsam verhandelt werden – das Land braucht dann einen hohen Schuldenerlass. Dafür gibt es eine Reihe von historischen und internationalen Beispielen, die Vorbild sein könnten. Deutschland etwa, das 1953 nach Ende des Zweiten Weltkrieg, obgleich Aggressor, eine sehr fortschrittliche Entschuldung erhalten hat und dem ein Großteil des damaligen Schuldenstandes gestrichen wurde – eine wesentliche Grundlage für das westdeutsche „Wirtschaftswunder“. Wichtig waren damals auch richtungsweisende Elemente, die es seitdem in keiner Umschuldung mehr gegeben hat, etwa dass Westdeutschland den Schuldendienst nur dann begleichen musste, wenn es einen Handelsüberschuss hatte. Dadurch konnte der Schuldendienst das Land und die Wirtschaft nie über Gebühr belasten.Und was braucht die Ukraine während des Krieges? Jetzt unmittelbar müsste es erstmal darum gehen, sicherzustellen, dass sämtliche Schuldendienstzahlungen für die Ukraine ausgesetzt werden bis nach dem Krieg – also ein garantiertes Schuldenmoratorium bis Kriegsende.Moment mal – sind die Rückzahlungen etwa nicht ausgesetzt? Die öffentlichen bilateralen Geber, zum Beispiel Deutschland, haben ein Moratorium bis 2027 erlassen, bis dahin muss die Ukraine an diese Gruppe keine Schulden zurückzahlen. Multilaterale Schulden muss die Ukraine aber weiter bedienen. Zudem gibt auch noch die Vorkriegsschulden bei privaten Gläubigern, etwa Investmentfonds wie BlackRock, die Anleihen von der Ukraine gekauft hatten. Die haben bei Kriegsbeginn die Zahlungen zwar auch ausgesetzt, doch diese Vereinbarung läuft im September aus. Aktuell verhandelt die Ukraine darum. Es könnte sein, dass sie noch während des Krieges anfangen wird müssen, Schulden wieder zurückzuzahlen, oder aber sich auf Vereinbarungen einzulassen, die den privaten Gläubigern im Gegenzug für einen Schuldenerlass die Partizipation an künftigem Wirtschaftswachstum oder Erlösen aus bestimmten Wirtschaftsbereichen sicherstellt. Solche Instrumente wurden gerade in den vergangenen Jahren verstärkt eingesetzt, etwa gegenüber Sri Lanka, Sambia, Ghana oder Suriname. In Suriname konnten sich private Gläubiger für einen sehr geringen, nicht ausreichenden Schuldenerlass Zugriffe auf künftige Öleinnahmen sichern.Wie könnten denn die Privaten zu einem garantierten Moratorium bis Kriegsende oder einen Schuldenerlass ohne derartige Zugeständnisse verpflichtet werden?Zum Beispiel durch Gesetzgebungen, die national einfach umsetzbar wären und die der Schuldnerseite rechtlichen Schutz vor Klagen privater Gläubiger geben könnte.Wo müssten solche Gesetze erlassen werden?Grundsätzlich: In je mehr Ländern, desto besser. Aber zentral sind natürlich die wichtigsten Finanzplätze, an denen solche Kreditverträge geschlossen wurden und werden. Das sind in der Regel London und New York, tatsächlich werden solche Gesetzgebungen derzeit auch in den USA sowie in Großbritannien diskutiert. Aber auch Deutschland ist ein wichtiger Finanz- und Handelsplatz, an dem es sinnvoll wäre, per Gesetz die Rechte der Schuldner gegenüber ihren Gläubigern zu stärken, damit diese nicht etwa Vermögen pfänden können, wenn die Schuldner sagen: Wir bedienen eure Forderungen nicht.Wie steht eigentlich die Selenskyj-Regierung zur Forderung nach einem Schuldenerlass?Aus dem, was man dazu öffentlich weiß, nehme ich eher ein zögerliches Verhalten wahr, was wohl damit zu tun hat, dass die Regierung gerne so schnell wie möglich wieder Zugang zu Krediten auch vom Kapitalmarkt hätte, ein Weg, der in der jetzigen Kriegssituation verschlossen ist. Und da ist wohl der Gedanke, wenn wir jetzt zu harsch auftreten, zu viel verlangen, geben die uns nachher nie wieder Kredite. Das ist eine diffuse Angst, die sehr viele Schuldner haben, die sich aber empirisch gar nicht bestätigen lässt: Wenn Länder tatsächlich vom Kapitalmarkt ausgeschlossen bleiben, dann zum Beispiel gerade weil eine Entschuldung nicht weit genug ging, es also eine hohe Altlast an untragbaren Schulden gibt, die wiederum zu neuen Wirtschaftskrisen oder zu weniger Wachstum führen.Wenn nicht die ukrainische Regierung, welche Partner*innen sind es dann in der Ukraine, mit denen „Erlassjahr“ gemeinsam für einen Schuldenerlass eintritt?Auch in der ukrainischen Zivilgesellschaft ist das, soweit wir wahrnehmen, noch kein ganz großes Thema, aus verschiedenen Gründen sicherlich, vor allem aber, weil es für die Menschen dort in erster Linie darum geht, zu überleben und diesen Krieg durchzustehen.Tatsächlich hat die Frage des Schuldenerlasses zu Beginn des Krieges eine größere Rolle gespielt, da wurden sowohl von akademischer Seite in der Ukraine, als auch aus dortigen sozialen Bewegungen Forderungen nach Schuldnerlassen oder -moratorien laut – Moratorien, die dann ja auch zumindest teilweise gewährt wurden. Dann ist das Thema eingeschlafen, was sicherlich viel mit der Entwicklung des Krieges zu tun hatte. Aber mein Eindruck ist, dass es so langsam wieder eine größere Rolle spielt, beispielsweise in den ukrainischen Gewerkschaften. Einmal, weil die Frage des Schuldendienstes an die privaten Gläubiger ganz aktuell im Raum steht. Aber auch, weil viele sich jetzt stärker mit der Frage des Wiederaufbaus beschäftigen.Unsere Rolle sehe ich dabei vor allem darin, dass wir die Stimmen, die sich mit diesen Themen befassen und Entschuldung fordern, hier verstärken und sichtbar machen – und so mithelfen, das Tabu zu durchbrechen.
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