António Guterres fordert Werbeverbot für Fossilkonzerne: „Ihr seid Paten des Klimachaos“

Vorschlag Neue Messergebnisse belegen: Noch nie war so viel Treibhausgas wie derzeit in der Atmosphäre. Kaum verwunderlich, dass die letzten 12 Monate allesamt Rekordtemperaturen brachten. In New York präsentierte der UN-Generalsekretär nun eine Idee
Misst seit 1957 die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre: Forschungsstation auf Hawaii
Misst seit 1957 die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre: Forschungsstation auf Hawaii

Foto: Robyn Beck/ Getty Images

Neue Hiobsbotschaft für den Klimaschutz: Die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre ist so hoch wie nie zuvor. Nicht nur das: Nach den Daten der US-Wetterbehörde NOAA steigt die Konzentration auch schneller als je zuvor. Dabei müsste sie nach dem Klimaabkommen der UNO, das im Jahr 2015 auf dem Klimagipfel in Paris geschlossen wurde, eigentlich sinken.

In New York hat UN-Generalsekretär António Guterres in dieser Woche Alarm geschlagen: „Wir spielen mit unserem Planeten russisches Roulette“, kritisierte er die mangelnden konkreten Anstrengungen der Regierungen. „Wir brauchen eine Ausfahrt vom Highway zur Klimahölle.“ Doch im Moment bewegen wir uns in die entgegengesetzte Richtung.

Gemessen wird die Konzentration der Treibhausgase in der Atmosphäre in ppm – „parts per million“. Als wichtigster Messpunkt gilt Mauna Loa, ein Vulkan auf Hawaii. Einfach, weil dort keine Industrieabgase die Ergebnisse verfälschen können: Industrieanlagen sind von der Inselgruppe tausende Kilometer entfernt. Normalerweise müsste die Treibhausgas-Konzentration derzeit sinken: Die Landmasse der Nordhalbkugel ist größer als südlich des Äquators, weshalb hier die Fauna im wachstumsstarken Frühling durch die Photosynthese auch mehr Kohlendioxid bindet als der Frühling im Süden. Aktuell beträgt der Wert 426,90 ppm. Das sei ein Anstieg von 2,9 ppm im Vergleich zum Vorjahres-Mai 2023, erklärte die US-Wetterbehörde – der fünftgrößte Zuwachs in der 50-jährigen Aufzeichnung.

Verlieren die Bäume im Norden dann ihre Blätter, steigt die Konzentration sehr steil an, insgesamt aber liegt der Jahresdurchschnitt immer über dem des Vorjahres. Nur einmal flachte die Kurve leicht ab: Anfang der 1990er Jahre schlug der Zusammenbruch der energieintensiven Wirtschaft des Sozialismus zu Buche.

António Guterres: „Die Fossilkonzerne haben die Wahrheit verdreht“

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte der junge Chemiker Charles Keeling an der US-Pazifikküste begonnen, mit einem selbst gebauten Manometer die Kohlendioxidkonzentration der Luft zu messen. Professor Roger Revelle wurde auf die Experimente aufmerksam und schickte Keeling 1957 nach Hawaii, um ein Messsystem auf dem Mauna Loa aufzubauen. Charles Keeling war 2007 gestorben, heute betreut sein Sohn Ralph die Messreihe.

Keeling und sein Team nehmen normalerweise vier Proben pro Stunde. 1958 waren darin 315 Teile Kohlendioxid pro Million Teile Luft enthalten. 1970 waren es 324 dieser „parts per million“. Als die Klimarahmenkonvention 1992 – das Basisdokument für den weltweiten Klimaschutz – beschlossen wurde, registrierten die Wissenschaftler bereits 354 ppm. Jahr für Jahr stieg die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre an, 2007 waren es 381 ppm. Nun sind es also fast 427 ppm.

RWE, Exxon, Total, OMV oder Shell: Guterres nannte die einzelnen Fossilkonzerne zwar nicht beim Namen, aber meinte sehr wohl sie, als er die „Paten des Klimachaos“ kritisierte, die jahrzehntelang die Öffentlichkeit getäuscht hätten. „Milliarden Dollar wurden ausgegeben, um die Wahrheit zu verdrehen und Zweifel zu säen“, sagte der UN-Generalsekretär und forderte ein Werbeverbot für die Branche – ähnlich wie Tabakwerbung.

In der vorindustriellen Zeit hatte die Treibhausgas-Konzentration in der Atmosphäre noch bei rund 280 ppm gelegen, wie Rekonstruktionen etwa von Eisbohrkernen oder Einschlüssen ergaben. Oberhalb von 450 ppm droht laut Wissenschaftlern, dass die Erde sich demgegenüber um durchschnittlich zwei Grad aufgeheizt hat. Dann werden sogenannte „Kipppunkte“ im Erdsystem angeschoben, die eine Verselbständigung der Klimaerhitzung zur Folge haben.

Wann der Meeresspiegel um sieben Meter steigt

Der Grönländische Eisschild ist so ein Kippelement. Viermal so groß wie die Bundesrepublik ist er in seiner Spitze höher als 3.000 Meter. Jeder der in den Alpen wandern geht, packt sich einen warmen Pullover ein, weil er weiß, auf dem Berg ist es kühler als unten im Tal. Das ist beim Grönländischen Eisschild ganz genau so: Beginnt der Eispanzer zu tauen, sinkt seine Oberfläche nach unten in immer wärmere Schichten. Die Eisschmelze – einmal angefangen – wird sich immer weiter beschleunigen. Schmilzt Grönland ab, steigt der Meeresspiegel um sieben Meter. Emden liegt ein Meter hoch.

Der Golfstrom, der Amazonaswald, die Antarktis oder der permanent gefrorene Boden in Sibirien, Alaska oder Kanada – gut ein Dutzend solcher Kippelemente gibt es, die bei zwei Grad mehr den Planeten gravierend verändern werden. Deshalb hatte sich die Weltklimakonferenz 2015 entschlossen, ein 1,5 Grad-Ziel als Obergrenze der Klimaerhitzung in den Klimavertrag zu schreiben: Nur unterhalb dieser Temperaturschwelle gibt es die Gewissheit, dass die Kippelemente stabil bleiben. Nach Auswertung der Daten vermeldete die Weltorganisation für Meteorologie aber, dass die globale Mitteltemperatur 2023 bereits um 1,45 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau lag.

„Um das 1,5 Grad-Ziel zu erreichen, müssen die weltweiten Treibhausgas-Emissionen bis zum Jahr 2030 um jährlich neun Prozent sinken“, sagte Guterres. Was nahezu unmöglich ist: Aktuell steigen die Emissionen um mehr als ein Prozent pro Jahr.

Was nicht ohne Folgen bleibt: Dieser Mai war der zwölfte Monat in Folge, in dem die globale Durchschnittstemperatur einen monatlichen Rekordwert erreichte. Nach Erhebung des EU-Erdbeobachungssystems Copernicus stieg die globale Oberflächentemperatur in den vorangegangenen zehn Jahren durch menschliches Handeln um 0,26 Grad Celsius an. Das ist ein neuer Rekord seit Aufzeichnungsbeginn – und bedeutet, dass sich die Klimaerhitzung nun beschleunigt.

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