HQ100 – so heißt ein Jahrhunderthochwasser in der Ingenieursprache. Der Wert ist deshalb wichtig, weil er die Berechnungsgrundlage für alle Hochwasser-Schutzanlagen und -Vorkehrungen ist. Praktisch ist HQ100 jener Pegelstand eines Bachs oder Flusses, den er statistisch gesehen einmal in 100 Jahren erreichen wird – also maximal einmal in einem Menschenleben. Zumindest war das vor dem Klimawandel so.
Seit alters her siedelten die Menschen im Tal, weil ihnen dort die Wasserkraft half, Arbeit zu verrichten. Alle paar hundert Jahre regnete es derart sintfluthaft, dass alles im Tal zerstört wurde: 1342 zum Beispiel bei der sogenannten „Magdalenenflut“, 1501 beim „Himmelfahrtsgieß“ an der Donau oder 1845 bei der großen Elbeflut. Aber der
. Aber der Vorteil der Wasserkraft lockte immer wieder Menschen ins Tal zurück, denn mit den wiederaufgebauten Sägewerken oder Mühlen ließ sich Reichtum erwirtschaften. Was aber, wenn ein HQ100 plötzlich alle drei Monate vorkommt?„Das ist in diesem Jahr das vierte Mal, dass ich in ein konkretes Einsatzgebiet gehe und mir anschaue, was dort ist“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag im bayerischen Reichertshofen, wo das Flüsschen Paar gerade ein HQ100 erlebte: Statistisch kann der gerade mal einen halben Meter tiefe Zufluss der Donau in 100 Jahren maximal auf 2,50 Meter anschwellen. Am Montag lag der Pegel aber dreieinhalb Meter hoch – ein neues Jahrhunderthochwasser. Zum vierten Mal innerhalb eines halben Jahres stand der Kanzler in Gummistiefeln vor den Fluten eines Jahrhunderthochwassers. „Das ist ein Hinweis, dass was los ist“, sagte Scholz am Montag in seiner gewohnt bräsigen Art. „Wir werden also die Aufgabe, den menschgemachten Klimawandel aufzuhalten, nicht vernachlässigen dürfen.“Zeitgleich trat in Berlin der Expertenrat für Klimafragen vor die Presse, um sein „Sondergutachten zur Prüfung der Treibhausgas-Projektionsdaten 2024“vorzulegen. Der Expertenrat ist das wichtigste Gremium der deutschen Klimapolitik, und er versetzte Olaf Scholz und seinem Regierungsteam eine kräftige Ohrfeige: Die Bundesregierung tut zu wenig für den Klimaschutz. „Mit der aktuellen Politik wird weder das kurzfristige noch das langfristige Ziel der Bundesregierung erreicht“, erklärte der Ausschussvorsitzende Hans-Martin Henning.Mit ihrem Klimagesetz hat sich die Bundesrepublik verpflichtet, ihre Treibhausgas-Produktion bis zum Jahr 2030 um 65 Prozent unter das Niveau von 1990 zu reduzieren. Nicht nur das: Bis zum Jahr 2045 sollen die Deutschen klimaneutral werden, also gar nichts mehr zur Aufheizung der Atmosphäre beitragen. Dafür hat das aktuelle deutsche Klimaschutzgesetz drei Kernelemente. Erstens: das sogenannte Klimaschutz-Programm. Darin enthalten sind konkrete politische Verordnungen, Gesetze oder Förderprogramme, die sicherstellen, dass jeder einzelne Bereich des Lebens seine Emissionen senkt – also zum Beispiel der Verkehr, Gebäude oder Landwirtschaft. Zweitens: der unabhängige Expertenrat, der regelmäßig prüft, ob das Regierungshandeln ausreicht. Falls dem nicht so ist, gibt es, drittens, Sofortprogramme, zu denen die einzelnen Ministerien verpflichtet sind, wenn in ihrem Bereich nicht genügend Treibhausgase eingespart werden. Würde sich das Kabinett von Olaf Scholz an dieses Recht und Gesetz halten, dann hätte es schon im vergangenen Jahr Sofortprogramme auflegen müssen: Aus dem Verkehrssektor und im Baubereich kommen nahezu keine Einsparungen.Weil Scholz und Co. solche Programme aber nicht auflegten, klagte die Deutsche Umwelthilfe (DUH). Und bekam Recht: Im vergangenen Herbst verurteilte das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Bundesregierung dazu, „gesetzeskonforme Klimaschutz-Sofortprogramme in den Sektoren Gebäude und Verkehr“ auf den Weg zu bringen. Passiert ist seitdem allerdings noch nichts.Bundesklimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) ging gegen dieses Urteil vor dem Bundesverwaltungsgericht in Revision. Was trefflich zeigt, welchen Stellenwert die Klimapolitik in dieser Regierung hat. DUH-Sprecher Matthias Walter formuliert es so: „Dass ein grüner Klimaschutzminister jemals Revision gegen ein Urteil für mehr Klimaschutz einlegt, das hätte wohl niemand vor dieser Regierungsbildung geglaubt.“Das wärmste Frühjahr jemalsAn diesem Montag konstatierte der Expertenrat für Klimafragen wiederum „Handlungsbedarf“, und zwar vor allem in den Bereichen Gebäude, Landwirtschaft und Verkehr. Brigitte Knopf, Physikerin und stellvertretende Ausschussvorsitzende, wurde konkret: Deutschland brauche ein Tempolimit, ein dauerhaftes Deutschlandticket und eine Abschaffung des Steuervorteils bei Dienstwagen.Allerdings hatte die Ampel ein neues Klimaschutzgesetz auf den Weg gebracht, das zwei wesentliche Änderungen vorsieht: Erstens muss nicht mehr jeder einzelne Sektor tatsächlich abliefern; wenn beispielsweise im Energiesektor mehr Kohlekraftwerke abgeschaltet würden, könnten die Autofahrer weiter rasen. Zweite Änderung: Die Einschätzung des Expertenrates ist nicht mehr bindend.Für die Berechnung von HQ100 ist übrigens die Clausius-Clapeyron-Gleichung relevant. Diese besagt, dass wärmere Luft mehr Wasser speichern kann. Mit anderen Worten: Wenn unsere Erdatmosphäre immer wärmer wird, werden die Regenwolken immer voller. Nicht verwunderlich ist deshalb, was der Deutsche Wetterdienst nach Auswertung seiner Messdaten bilanzierte: Dieses Frühjahr war das wärmste, das jemals in Deutschland registriert wurde. Verglichen mit der international gültigen Referenzperiode 1961 bis 1990 lag die Temperatur zwischen Märzanfang und Juni 3,1 Grad höher. Der Wetterdienst bilanzierte auch mehrere Niederschlagsrekorde. Wann werden wir die Dramatik verstehen?Sicherlich ist es notwendig, zwischen Wetter und Klima zu unterscheiden. Aber wie sagte der Kanzler doch so schön? „Das ist ein Hinweis, dass was los ist.“