Rafah: Jetzt steht auch die Koexistenz zwischen Israel und Ägypten auf dem Spiel

Meinung Benjamin Netanjahus rechtsextreme Minister machen kein Hehl daraus, dass Siedler den Gazastreifen erneut in Besitz nehmen sollten. Dazu wäre die palästinensische Bevölkerung dauerhaft zu verdrängen. Auffangen könnte sie nur Ägypten
Ausgabe 07/2024
Zerstörung in einem palästinensischen Zeltlager in Rafah
Zerstörung in einem palästinensischen Zeltlager in Rafah

Foto: Jehad Alshrafi/Anadolu/picture alliance

Benjamin Netanjahu konnte sich zuletzt dem internationalen Druck nicht länger entziehen. Er musste Verhandlungen in Kairo mit den USA, Katar und Ägypten über eine Waffenruhe in Gaza zustimmen. Zuvor hatte er der Armee Order erteilt, den Angriff auf Rafah vorzubereiten. Dort kampieren etwa anderthalb Millionen Menschen unter unsäglichen Bedingungen. Tatsächlich – wenn Netanjahu konsequent bleiben und den vollständigen Sieg über die Hamas will, muss er Rafah nach potenziellen Kämpfern durchkämmen lassen.

Alle männlichen Personen zwischen acht und 75 Jahren müssten einem mehr oder weniger robusten Verhör unterzogen werden, was bis zur eventuellen Wiederwahl von Donald Trump dauern dürfte. In dem sieht Israels Regierungschef nicht zu Unrecht einen Garanten seines politischen Überlebens, was Schutz böte vor anhängenden juristischen Verfahren. Da bei einem solchen Vorgehen jedoch mit Widerstand zu rechnen ist, wäre ein personeller Einsatz nötig, der vermutlich nicht zur Verfügung steht.

Denkbar ist deshalb ein anderes Szenario. Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich, Netanjahus rechtsextreme Minister, haben am 29. Januar einen Kongress der Siedler angefeuert, Gaza erneut in Besitz zu nehmen und die palästinensische Bevölkerung dauerhaft zu vertreiben. Nur wohin? Bei schweren Bombardements gegen Rafah käme nur Ägypten in Betracht. Schließlich müssen weltweit Menschen kriegsbedingt ihre Heimat verlassen und schlimmer als das Leben in Rafah kann es nirgends sein. Immerhin könnten die Palästinenser in Ägypten besser von der internationalen Gemeinschaft versorgt werden.

Diese – so denken israelische Regierungsmitglieder öffentlich nach – könne einem solchen Exodus durch finanzielle Anreize den Anschein von Freiwilligkeit geben. Dieser Plan wird umso wahrscheinlicher, je mehr sich die Not in Rafah verschärft, wenn das einer Kollaboration mit der Hamas beschuldigte UN-Hilfswerk nicht mehr helfen darf. So ähnlich denken wohl auch jene Regierungen, die Israel wegen seiner Kriegsführung wirkungslos ermahnen, sich der ansonsten gebrauchten Sanktionsstrafen nicht bedienen und Netanjahu großzügig mit Waffen versorgen. Dass die Verdrängung der Palästinenser nach Ägypten eine zweite Nakba wäre, bei der doppelt so viele Menschen vertrieben würden wie zwischen 1947 und 1949, kümmert wenig und wird bewusst dem Vergessen anheimgegeben. In Deutschland hat selbst der Evangelische Kirchentag im Frühjahr 2023 die auf Quellen israelischer Forscher beruhende Nakba-Ausstellung, die seit 2010 immer gezeigt wurde, erstmalig ausgeladen.

Sollte es zur Vertreibung der Palästinenser nach Ägypten kommen, droht dessen Regierung damit, den 1979 geschlossenen Friedensvertrag mit Israel als gebrochen anzusehen. Das verheißt keinen sofortigen Krieg, aber einen erheblichen Anstieg terroristischer Gefahren. Der Wunsch vieler Israelis nach gedeihlichem Auskommen mit der arabischen Welt bliebe für lange Zeit unerfüllt. Wenn Juden nach zweitausend Jahre währender Diaspora auf ihrem Rückkehrrecht bestehen, muss man den Palästinensern Gleiches zubilligen. Weder die seit Monaten stattfindende Kriegsführung noch eine erneute Vertreibung sind geeignet, die Hamas oder den palästinensischen Widerstand überhaupt auszulöschen. Wenn Juden friedlich im Nahen Osten leben möchten, führt kein Weg daran vorbei, dies auch den Palästinensern als Mitbürgern und Nachbarn einzuräumen.

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