Slavoj Žižek: Israel muss Palästina anerkennen und der Wahrheit ins Auge sehen
Essay Der Philosoph Slavoj Žižek begrüßt die Anerkennung Palästinas als Staat und die Verfolgung der Kriegsverbrechen Israels und Gazas vor dem Internationalen Strafgerichtshof: Nur wer Wahrheit ausspricht und anerkennt, kann Kriege beenden
Salman Rushdie sagte im Mai, wenn heute ein palästinensischer Staat gegründet würde, wäre es ein „talibanähnlicher Staat“, der von der Hamas regiert würde. Er kritisierte auch die israelkritischen Studentenproteste und sagte, es sei „seltsam“, dass fortschrittliche Jugendliche die Hamas unterstützen würden, die er als „faschistische Terrorgruppe“ bezeichnete.
Ich verstehe Salman Rushdies verbitterte Haltung voll und ganz nach dem, was er erst mit der Fatwa des Ayatollah Khomeini und dann dem Messerangriff, der ihn fast getötet hätte, durchgemacht hat. Ich fühlte auch ganz mit ihm, als einige seiner „linken“ Freunde ihm vorwarfen, er würde die Muslime „unnötig provozieren
mit ihm, als einige seiner „linken“ Freunde ihm vorwarfen, er würde die Muslime „unnötig provozieren“. Solche Vorwürfe werden offensichtlich von einer pathologischen Angst mancher westlicher liberaler Linker getragen, sich der Islamophobie schuldig zu machen. Jede Kritik am Islam wird als Ausdruck westlicher Islamophobie angeprangert, Salman Rushdie wird beschuldigt, Muslime unnötig zu provozieren und damit (zumindest teilweise) für die Fatwa verantwortlich zu sein, die ihn zum Tode verurteilt.Das Ergebnis einer solchen Haltung ist das: Je mehr die westliche liberale Linke nach ihrer Schuld an Islamophobie fragt, desto mehr werden sie von den muslimischen Fundamentalisten beschuldigt, Heuchler zu sein, die ihren Hass auf den Islam bloß zu verbergen versuchen. Diese Konstellation reproduziert wiederum perfekt das Paradoxon des Über-Ichs: Je mehr man gehorcht, was der Andere von einem verlangt, desto schuldiger ist man. Je mehr man den Islam toleriert, desto stärker wird der Druck, den er auf einen ausübt.Ein palästinensischer Staat bindet auch die Palästinenser an internationales RechtIn der Einschätzung eines palästinensischen Staates stimme ich dennoch nicht mit Rushdie überein. Wenn er die Taliban erwähnt, ist meine erste Assoziation: Aber wie haben die Taliban in Afghanistan die Macht übernommen? Afghanistan war ein relativ offener Staat, der für die Modernisierung empfänglich war – bis 1978, als die Kommunisten durch einen Putsch die Macht übernahmen und die Sowjetunion zur Unterstützung ihrer schwindenden Macht militärisch intervenierte, während die USA und Pakistan den muslimischen Widerstand mit Waffen versorgten (die Taliban wurden vom pakistanischen Geheimdienst organisiert), und der Rest ist Geschichte.Es waren also ausländische Interventionen (Sowjetunion, Pakistan, USA), die ein relativ friedliches und pluralistisches Land in eine fundamentalistische autoritäre Herrschaft drängten. Und was in den besetzten Gebieten Palästinas in ähnlicher Weise den brutalen Widerstand der Hamas schürt, ist die Situation, dass Israel den Palästinensern unter seiner Kontrolle nicht erlaubt, sich als autonome politische Akteure zu organisieren. In gewisser Weise haben sich die Palästinenser unter der Politik Israels in den vergangenen Jahren „hamasisiert“, was die israelische Regierung nutzte, um das brutale Vorgehen gegen die Palästinenser und die Expansion Israels „vom Fluss bis zum Meer“ als Akt der Selbstverteidigung darzustellen.Aus diesem Grund ist die Anerkennung Palästinas als Staat der einzige Weg, nicht nur Israels militärischem Terror gegen die Zivilbevölkerung Einhalt zu gebieten, sondern auch die Palästinenser selbst zu zwingen, als legitime politische Kraft zu handeln, die an internationale Gesetze und Regeln gebunden ist. In letzter Zeit gibt es einige unerwartete positive Überraschungen in dieser Richtung. Es sind nicht nur die protestierenden Studenten, die aktiv sind: Spanien und Irland wollen Palästina anerkennen, Norwegen hat diesen Schritt nun getan, und andere westliche Staaten bereiten sich darauf vor, dasselbe zu tun. Am 20. Mai 2024 hat sich das französische Außenministerium hinter den Internationalen Strafgerichtshof gestellt und die Prüfung der Haftbefehle gegen israelische und Hamas-Führer wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Gaza und in Israel unterstützt. Tage später schlossen sich Belgien und Deutschland mit dem Bekenntnis zum ICC an.In seinem Antrag auf Haftbefehl stellt der Chefankläger des IStGH keine direkten Vergleiche zwischen Israel und der Hamas an, sondern wirft beiden vor, dass sie jeweils Verbrechen begangen haben. Die Verfolgung der Verbrechen ist notwendig, um sowohl den Terror des israelischen Militärs gegen die palästinensische Zivilbevölkerung zu verurteilen, als auch die Palästinenser an internationales Recht zu binden. Aber sie ist auch von weitreichenden Folgen für Israel und die westliche Welt.„Wenn sie das mit Israel machen, sind wir die nächsten!“Kein Wunder, dass die Biden-Administration dem Chefankläger Karim Khan mit Sanktionen droht – so warnte der US-Senator Lindsey Graham: „Wenn sie das mit Israel machen, sind wir die Nächsten!“ Graham hat Recht: Bisher war der Internationale Strafgerichtshof auf Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika festgelegt, aber jetzt will er die sogenannte „regelbasierte internationale Ordnung“ universell und ohne Ausnahmen anwenden. Ich finde diese Verfahren gerade deshalb wichtig, weil sie die Proklamation universeller Menschenrechte nicht nur als Maske westlicher Vorherrschaft nutzen: Sie nehmen sie ernster, als sie gemeint waren.Die Bedrohung geht nicht nur von dem heuchlerischen Eintreten des Westens für universelle Rechte aus: Auf die eine oder andere Weise spielen alle großen Machtblöcke das gleiche heuchlerische Spiel. Und da kommt auch die Linke durcheinander: In einer Form „falscher Universalität“ werden Angreifer und Opfer auf die gleiche Stufe gestellt. Hier ein Vorfall aus jüngster Zeit, bei dem ich mich für die slowenische Linke schämte. Als am 23. Mai das Frachtschiff Borkum in der slowenischen Küstenstadt Koper landete, kamen Gerüchte auf, das Schiff transportiere Waffen für Israel. Pro-palästinensische Demonstranten forderten von der slowenischen Regierung, der Borkum die Landung in Koper zu verbieten.Als jedoch eine Regierungsbehörde erklärte, dass sich keine Waffen auf dem Schiff befinden, dessen endgültiger Bestimmungsort Israel sei, veröffentlichten 43 Protestorganisationen die folgende Erklärung: „Unabhängig davon, ob der Zielort der Waffen Israel ist oder die Tschechische Republik und von dort vielleicht die Ukraine, handelt es sich um Waffen für die Streitkräfte imperialistischer Staaten, die nicht zum Frieden beitragen und die arbeitenden Menschen nicht verteidigen. Wir, die Unterzeichner dieser Erklärung, treten für den Frieden ein und sind gegen Aufrüstung. Der Handel mit Waffen für imperialistische Kriege ist inakzeptabel.“Ich lehne die zugrunde liegende Gleichsetzung der israelischen Zerstörung (nicht nur) des Gazastreifens mit der Verteidigung der Ukraine gegen den russischen Angriff, also die Bezeichnung des verzweifelten Überlebenskampfes der Ukraine als „imperialistischen Krieg“, entschieden ab. Deshalb ist Putins jüngste Zusage für die Unterstützung eines „freien Palästina“ eine Lüge, die von einer faktischen Wahrheit getragen wird – sie dient dazu, die Versprechen einer „freien Ukraine“ zu verwischen, die von Russland brutal verletzt wurden.Ist das Handeln des Internationalen Gerichtshofs folgenlos?Aber es gibt Anzeichen, die etwas Hoffnung machen. Am 24. Mai 2024 wies der Internationale Gerichtshof, das oberste Gericht der Vereinten Nationen, Israel an, seine Militäroffensive in Rafah „unverzüglich einzustellen“. Die Urteile des IGH sind endgültig und bindend, aber das Gericht verfügt nicht über einen Mechanismus, um sie durchzusetzen. Hier haben die Zyniker leichtes Spiel: Solche großen öffentlichen Verurteilungen seien leere Gesten, munkelt mancher, die die Situation auf dem Schlachtfeld in keiner Weise wesentlich beeinflussen können. Doch in diesem Fall liegt eine solche zynische Haltung daneben.Wir können alle sehen, wie das pro-israelische Establishment in großer Sorge auf den ICC-Haftbefehl und die Bemühungen um die Anerkennung Palästinas reagiert hat. Ich weise hier auf einen Gedanken des französischen Philosophen Jean-Paul Sartre hin, präzise formuliert: „Wenn die Obrigkeit es für nützlich hält, die Wahrheit zu sagen, dann deshalb, weil sie keine bessere Lüge finden kann. Die Wahrheit, die aus dem Mund der Verantwortlichen kommt, wird sofort zu einer Lüge, die durch die Fakten untermauert wird.“Dies ist weitgehend der Fall bei den westlichen Ländern, die ihre „Besorgnis“ über die Gewalt der IDF in Gaza und im Westjordanland zum Ausdruck bringen: Bei aller Kritik an der israelischen Regierung liefern sie weiterhin Waffen an das israelische Militär. Sartres These ist jedoch nicht allgemeingültig. Es gibt Möglichkeiten, die Wahrheit zu sagen, die nicht zur Lüge wird – die Anerkennung Palästinas als Staat und die Befolgung eines möglichen Haftbefehls des IStGH gegen Netanjahu als Kriegsverbrecher sind solche Fälle. In der heutigen Inflation der feierlichen Erklärungen sollten wir nie vergessen, dass nicht alle Worte gleich sind, dass es immer noch Worte gibt, die nicht nur faktisch wahr sind, sondern auch die Wirkung von Wahrheit entfalten.Von Wahrheit und dem Ertragen der WahrheitDie meisten von uns kennen die Stelle im Film Eine Frage der Ehre (Rob Reiner, 1992), als Tom Cruise (der den Anwalt der Verteidigung spielt) Jack Nicholson (der den Guantanamo-Bay-Colonel Jessep spielt) mit seiner Forderung „I want the truth!“ konfrontiert, und Nicholson zurückruft: „You can’t handle the truth!“Diese Antwort ist mehrdeutiger, als es den Anschein hat: Sie sollte nicht einfach als Behauptung verstanden werden, dass die meisten von uns zu schwach sind, um mit der brutalen Realität der Dinge umzugehen. Wenn jemand einen Zeitzeugen nach der Wahrheit des Holocausts fragt und dieser antwortet: „Du kannst mit der Wahrheit nicht umgehen!“, sollte dies nicht nur als Behauptung verstanden werden, dass die meisten von uns nicht in der Lage sind, das Grauen des Holocausts zu verarbeiten.Auf einer tieferen Ebene waren diejenigen, die nicht in der Lage waren, mit der Wahrheit umzugehen, die Nazi-Täter selbst: Sie waren nicht in der Lage, die Tatsache zu akzeptieren, dass ihre Gesellschaft von einem allumfassenden Antagonismus durchzogen war, und um dieser Einsicht zu entgehen, ließen sie sich auf das volksmörderische Treiben gegen die Juden ein, als ob die Tötung der Juden einen harmonischen sozialen Gesellschaftskörper wiederherstellen würde.Und darin liegt die letzte Lehre aus den Gräueln in Gaza und in der Ukraine: Wir flüchten uns nicht nur in eine Fantasie, um die Konfrontation mit der Realität zu vermeiden, wir flüchten uns auch in die Realität (der brutalen Taten), um die Wahrheit über die Sinnlosigkeit unserer Fantasien zu vermeiden. Israel flüchtet in die Zerstörung des Gazastreifens, um der Wahrheit über seine missliche Lage im Nahen Osten zu entgehen, so wie Russland in die Zerstörung der Ukraine flüchtet, um der Wahrheit über die Vergeblichkeit seiner euroasiatischen ideologischen Fantasien zu entgehen. Die dumme Weisheit „Reden Sie nicht nur, tun Sie etwas!“ sollte umgedreht werden: „Tu nicht nur etwas, sag das richtige Wort! Sag die Wahrheit!“
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