Slavoj Žižek: Nicht Israel gegen Palästina, sondern Netanjahu gegen Hamas
Essay In Israel und Gaza sterben Tausende. Der Philosoph Slavoj Žižek sagt: Es sind die Hardliner auf beiden Seiten, die diesen Krieg führen. Frieden kann nur erreicht werden, wenn Palästinenser und Israelis gleichermaßen eine Zukunft haben
Der Angriff der Hamas auf Israel muss bedingungslos verurteilt werden, ohne Wenn und Aber. Denken wir nur an das Massaker an jungen Zivilisten auf der Rave-Party, bei dem 260 Menschen erschossen wurden – das ist kein „Krieg“, das ist schlicht und einfach Gemetzel, das ein Zeichen dafür ist, dass das Ziel der Hamas, die Zerstörung Israels als Staat, die massive Tötung israelischer Zivilisten einschließt.
Was jetzt dringend getan werden sollte, ist, diesen Angriff in seinem historischen Kontext zu verorten – eine solche Kontextualisierung rechtfertigt ihn keineswegs, sie klärt auf, warum und wie es dazu kommen konnte.
Natürlich ist die Geschichte des Konflikts in Palästina/Israel lang, und es ist hier nicht der Ort, historische Verantw
ie Geschichte des Konflikts in Palästina/Israel lang, und es ist hier nicht der Ort, historische Verantwortlichkeiten aus einer langen Geschichte der Gewalt im Einzelnen darzustellen, die bis zum Antisemitismus des Mittelalters, zur Entstehung des Zionismus im 19. Jahrhundert, dem Holocaust, der Gründung Israels 1948 und dem Beginn der Besetzung der Westbank 1967 zurückreicht. Für die jüngere Geschichte steht jedoch fest, dass sich die Dinge mit der neuen Regierung Benjamin Netanjahus zum Schlechteren gewendet haben. In einer Fernsehsendung am 25. August 2023 sagte Itamar Ben Gvir, der Minister für nationale Sicherheit: „Mein Recht, das Recht meiner Frau und das Recht meiner Kinder, sich auf den Straßen von Judäa und Samaria [Westjordanland] frei zu bewegen, ist wichtiger als das der Araber.“ Dann wandte sich Ben Gvir an den Podiumsteilnehmer Mohammad Magadli, den einzigen Araber auf dem Podium, und sagte: „Tut mir leid, Mohammad, aber das ist die Realität.“Die antipalästinensische Gewalt wird nicht einmal mehr formell vom Staat verurteilt. Der Werdegang von Ben-Gvir ist der deutlichste Indikator für diesen Wandel.„Netanjahus fanatische Regierung macht Blutvergießen unvermeidlich“Bevor er in die Politik ging, war Ben-Gvir dafür bekannt, dass in seinem Wohnzimmer ein Porträt des israelisch-amerikanischen Terroristen Baruch Goldstein hing, der 1994 in Hebron 29 palästinensische muslimische Gläubige massakrierte und 125 weitere verletzte, was als Massaker in der Höhle der Patriarchen bekannt wurde. Er trat in die Politik ein, indem er sich der Jugendbewegung der Parteien Kach und Kahane Chai anschloss, die von der israelischen Regierung selbst als terroristische Organisation eingestuft und verboten wurde. Als er mit 18 Jahren in die israelischen Verteidigungsstreitkräfte einberufen wurde, wurde er aufgrund seines rechtsextremen politischen Hintergrunds vom Dienst ausgeschlossen. Und eine solche Person, die von Israel selbst als Rassist und Terrorist eingestuft wurde, wurde nun der Minister, der die Rechtsstaatlichkeit schützen soll.Der Staat Israel, der sich gerne als die einzige Demokratie im Nahen Osten präsentiert, hat sich de facto in einen theokratischen Staat (mit dem Äquivalent der Scharia) verwandelt. Israels früherer Außenminister Shlomo Ben-Ami schrieb unter dem Titel „Hybris trifft auf Nemesis in Israel“: „Indem er jeden politischen Prozess in Palästina ausschloss und in den verbindlichen Leitlinien seiner Regierung kühn behauptete, dass ,das jüdische Volk ein ausschließliches und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel hat', machte Netanjahus fanatische Regierung ein Blutvergießen unvermeidlich.“ Eine Übertreibung?Die Grundprinzipien der 37. israelischen RegierungDie Hamas in Gaza ist für das Massaker verantwortlich.Es lohnt sich gleichzeitig, einen Blick auf die Umstände zu werfen, unter denen die Brutalität der Hamas entstanden ist. Hier das erste der offiziellen „Grundprinzipien der 37. israelischen Regierung“: „Das jüdische Volk hat ein ausschließliches und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel. Die Regierung wird die Besiedlung aller Teile des Landes Israel – in Galiläa, in der Negev, auf dem Golan und in Judäa und Samaria – fördern und entwickeln.“ Wie kann man nach einem solchen „Prinzip“ den Palästinensern vorwerfen, dass sie sich weigern, mit Israel zu verhandeln? Schließt dieser „Grundsatz“ jegliche ernsthafte Verhandlungen aus? Und wenn dem so ist: Bleibt den Palästinensern nur der gewaltsame Widerstand?In einem 2020 im Spiegel erschienenen Streitgespräch mit Michael Naumann über Antisemitismus und die Bewegung Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen (BDS) sagte Michael Wolffsohn: „Wer Antisemit ist, bestimmt der Jude und nicht der Zuschauer, und schon gar nicht der potenzielle Antisemit.“ Natürlich: Das Opfer soll selbst entscheiden, ob es wirklich ein Opfer ist. Aber gilt das nicht auch für die Palästinenser, die in der Lage sein sollten, zu bestimmen, wer es ist, der ihr Land stiehlt und sie ihrer elementaren Rechte beraubt?Die Verzweiflung der Palästinenser im WestjordanlandUm eine Vorstellung von der Verzweiflung der Palästinenser im Westjordanland zu bekommen, genügt es, sich an die Welle von Selbstmordattentaten auf den Straßen (vor allem) Jerusalems vor etwa zehn Jahren zu erinnern: Ein Palästinenser ging auf einen Juden zu, zog ein Messer und stach auf ihn ein, wohl wissend, dass er daraufhin sofort von anderen Menschen in seiner Umgebung getötet werden würde. Diese terroristischen Taten hatten keine Botschaft, es gab keine „Free Palestine“-Rufe, es steckte keine politische Organisation dahinter (nicht einmal die israelischen Behörden behaupteten das), sondern einfach nur: pure Verzweiflung.Ich war zu dieser Zeit in Jerusalem und meine jüdischen Freunde warnten mich vor dieser Gefahr und rieten mir, dass ich, wenn ich einen Angriff kommen sehe, laut rufen sollte: „Ich bin kein Jude!“ – und ich erinnere mich deutlich daran, dass ich mich zutiefst für die Vorstellung schämte, mich so zu verhalten, wohl wissend, dass ich nicht sicher war, was ich in einer solchen Situation wirklich tun würde.„Israel ist auf dem Weg, eine Diktatur zu werden“Wir befinden uns nun in einer Situation, in der sowohl die Hamas als auch die Regierung Netanjahu gegen jede Friedensoption sind und den Kampf bis zum Tod befürworten. Der Angriff der Hamas muss auch vor dem Hintergrund des großen Konflikts gesehen werden, der Israel in den vergangenen Monaten gespalten hat. Der israelische Historiker Yuval Harari kommentierte die von der Netanjahu-Regierung vorgeschlagenen Maßnahmen in der Zeitung Haaretz mit harten Worten: „Dies ist definitiv ein Putsch. Israel ist auf dem Weg, eine Diktatur zu werden.“Israel war gespalten zwischen nationalistischen Fundamentalisten, die versuchten, die verbleibenden Merkmale der legalen Staatsmacht abzuschaffen, und den Mitgliedern der Zivilgesellschaft, die sich dieser Bedrohung bewusst waren, aber immer noch Angst hatten, einen Pakt mit nicht-antisemitischen Palästinensern vorzuschlagen. Die Situation näherte sich einem Bürgerkrieg unter den jüdischen Israelis selbst, mit Anzeichen für den Zerfall der Rechtsordnung. Mit dem Hamas-Anschlag ist die Krise (zumindest vorübergehend) überwunden, und es herrscht ein Geist der nationalen Einheit: Die Opposition schlug sofort vor, eine Notstandsregierung der nationalen Einheit zu bilden, oder, wie der Oppositionsführer Yair Lapid sagte: „Ich werde mich nicht mit der Frage befassen, wer schuld ist und warum wir überrascht wurden. Wir werden unserem Feind geschlossen entgegentreten.“ Es gibt noch weitere ähnliche Gesten: Reservisten, die sich aus Protest gegen die Justizreform und die Einschränkung der Gewaltenteilung dem Dienst entzogen hatten, haben sich nun wieder zum Militärdienst gemeldet.Die innere Spaltung wird überwunden, wenn sich beide Seiten gegen einen äußeren Feind zusammenschließen. Wie kann man aus diesem verdammten Teufelskreis ausbrechen?Kampf gegen die Hamas – und Verhandlungen mit den PalästinensernKein Geringerer als der ehemalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert ließ eine etwas andere Stimme verlauten: Ja, Israel sollte die Hamas bekämpfen, aber es sollte diese Situation auch nutzen, um verhandlungsbereiten Palästinensern die Hand zu reichen, denn im Hintergrund des Krieges lauert die ungelöste Palästinenserfrage. Und es gibt definitiv nicht-antisemitische Palästinenser. Am 10. September 2023 unterzeichnete eine Gruppe von mehr als hundert palästinensischen Akademikern und Intellektuellen einen Offenen Brief, in dem sie die „moralisch und politisch verwerflichen Äußerungen“ verurteilten, die der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas kürzlich über den Holocaust und die Herkunft der aschkenasischen Juden gemacht hatte: „Der nationalsozialistische Völkermord am jüdischen Volk hat seine Wurzeln in einer damals in der europäischen Kultur und Wissenschaft weitverbreiteten Rassentheorie und ist aus Antisemitismus, Faschismus und Rassismus entstanden. Wir weisen jeden Versuch, Antisemitismus, nationalsozialistische Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Geschichtsrevisionismus in Bezug auf den Holocaust zu verharmlosen, zu verdrehen oder zu rechtfertigen, entschieden zurück.“Nicht alle Israelis sind fanatische Nationalisten, nicht alle Palästinenser sind Antisemiten – so wie auch nicht alle Russen Pro-Putin sind.Welches ist das Land, in dem Palästinenser leben?Unter all der Polemik darüber, „wer mehr Terrorist ist“, liegt wie eine schwere dunkle Wolke die Masse der palästinensischen Araber, die seit Jahrzehnten in einem Schwebezustand gehalten werden. Wer sind sie, welches ist das Land, in dem sie leben? Besetztes Gebiet, Westjordanland, Judäa und Samaria ... oder der Staat Palästina, der derzeit von 139 der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen anerkannt wird. Er ist Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, der UNESCO, der UNCTAD und des Internationalen Strafgerichtshofs. Nach einem gescheiterten Versuch im Jahr 2011, den Status eines Vollmitglieds der Vereinten Nationen zu erhalten, stimmte die Generalversammlung der Vereinten Nationen 2012 für die Anerkennung Palästinas als Nichtmitgliedstaat mit Beobachterstatus.Israel (das ihr Gebiet kontrolliert) behandelt sie als vorübergehende Siedler, als Hindernis für die Wiederherstellung des „normalen“ Staates mit Juden als den einzigen wahren Einheimischen. Selbst viele atheistische Israelis argumentieren, dass Gott zwar nicht existiert, ihnen aber das Land Israel zur ausschließlichen Nutzung überlassen hat. Palästinenser werden strikt als Problem behandelt, der Staat Israel hat ihnen nie eine Hoffnung geboten oder die Möglichkeit gegeben, ihre Rolle in dem Staat, in dem sie leben, positiv zu umreißen. Am obszönsten war die vor etwa einem Jahrzehnt kursierende Idee, dass jeder Palästinenser im Westjordanland eine halbe Million Dollar erhalten sollte, wenn er das Land verlässt.Niemand muss sich für Netanjahu oder die Hamas entscheidenDie Hamas und die israelischen Hardliner sind also die zwei Seiten derselben Medaille: Die wahre Wahl besteht nicht zwischen ihnen, sondern zwischen den Hardliner-Fundamentalisten und denjenigen, die für eine Koexistenz auf beiden Seiten offen sind. Auch hier muss man sich gegen die doppelte Erpressung wehren: Wer für die Palästinenser ist, ist eo ipso antisemitisch, und wer gegen Antisemitismus ist, muss eo ipso für Israel sein. Die Lösung ist nicht ein Kompromiss, ein „richtiges Maß“ zwischen den beiden Extremen – man sollte vielmehr in beide Richtungen bis zum Ende gehen, sowohl bei der Verteidigung der palästinensischen Rechte als auch bei der Bekämpfung des Antisemitismus.So utopisch das auch klingen mag, die beiden Kämpfe sind zwei Momente desselben Kampfes – vor allem heute, wo antisemitische Zionisten Oberwasser haben: Menschen, die verdeckt antisemitisch sind, aber die Expansion Israels unterstützen, von Anders Breivik über die AfD in Deutschland bis zu religiösen Fundamentalisten in den USA. Also ja, ich unterstütze bedingungslos das Recht Israels, sich gegen solche terroristischen Angriffe zu verteidigen. Gleichzeitig habe ich bedingungsloses Mitgefühl mit dem verzweifelten und immer hoffnungsloseren Schicksal der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Diejenigen, die in dieser meiner Haltung einen „Widerspruch“ sehen, sind diejenigen, die tatsächlich eine Bedrohung für unsere Würde und Freiheit darstellen.
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