Enis Maci und Mazlum Nergiz über Karl May: „Dieses Deutschland hat nie existiert“
Interview Enis Maci und Mazlum Nergiz haben Karl May, anders als Millionen ihrer Mitbürger, erst als Erwachsene entdeckt. Sie fragten sich: Wofür steht dieser Autor? Dann wurde die Sache kompliziert
Ann Göbel in „Karl May" von Enis Maci und Mazlum Nergiz an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz
Foto: Luna Zscharnt
Karl May, das ist ja so eine Sache hierzulande: Entweder man hasst ihn, oder man liebt ihn. Zum Hassen gibt es genug Gründe: Reaktionär sind seine Figuren, rückständig sein Heldenbild, rassistisch ist er in seiner Beschreibung der Völkerschaften, die in seinen Romanen auftauchen. Hochstapler, Kleinkrimineller, Kolonialapologet; Karl May war alles andere als der rechtschaffene Völkerfreund, als der er sich in seinen Erzählungen porträtierte. Der erste Skandal ereilt ihn noch zu Lebzeiten: Findige Journalisten beweisen, dass all das, was er in seinen „Reiseerzählungen“ berichtet, gar nicht wahr ist. Lieben muss man ihn dagegen für die tolldreisten Geschichten, die er uns auftischt: Allein auf den ersten hundert Seiten des Winnetou
innetou erlegt er zwei Bisonbullen, zähmt einen wilden Mustang und tötet einen Grizzly mit dem Messer. Und das alles noch, bevor die eigentliche Story losgeht …Und dann war da noch der jüngste Skandal: 2022 zog Ravensburger ein Buch über „den jungen Häuptling Winnetou“ zurück: Dieses Bild der amerikanischen Ureinwohner sei nicht mehr zeitgemäß. Einige, für die Karl May synonym mit ihrer Kindheit war, fühlten sich in ihrer Existenz bedroht. Denn Karl May, das ist ja eigentlich gar kein Schriftsteller, sondern ein Feeling.Es lohnt sich also, den Mythos und das Gespenst aus Radebeul noch einmal zu beschwören. Das haben Enis Maci und Mazlum Nergiz getan, die ihn, anders als Millionen ihrer Mitbürger, als Erwachsene erst entdeckten. Ein Theaterstück und einen Essay haben sie dem meistverkauften Schriftsteller deutscher Sprache inzwischen gewidmet.der Freitag: Frau Maci, Herr Nergiz, warum wollten Sie ausgerechnet über Karl May nachdenken und schreiben?Enis Maci: Wie so oft: aus Versehen. Es begann mit dem Winnetou-Remake von RTL 2016, damals titelte das Magazin DB-Mobil mit Wotan Wilke Möhring, der den Old Shatterhand spielte. Und auf dem Cover stand: „Jeder Mann braucht einen Blutsbruder“. Als wir versuchten, zu verstehen, worum es hier ging, wurde die Sache immer komplizierter.„Wir wussten: Entweder man liebt oder man hasst Karl May. Also haben wir uns gefragt: Welches kulturelles Erbe schleift sich da mit?“ Mazlum NergizMazlum Nergiz: Begonnen haben wir diese Reise, ohne viel zu wissen. Wir kannten diese oberflächliche Grenzziehung: Entweder man liebt oder man hasst Karl May. Wir sind von einer Position der Neugier aus gestartet: Wir haben uns gefragt: Gibt es ein „Karl-May-Prinzip“? Was ist das kulturelle Erbe, das sich da mitschleift? Welche Landkarte eröffnet sich da?Maci: Wir sind das Ganze angegangen wie eine Bohrung. Und wie im Bergbau erschien auch bei unserer Recherche so viel scheinbar Unnützes – Abwasser, taubes Gestein –, das sich am Ende als eigentlicher Rohstoff entpuppte. Die Nebensächlichkeiten, die uns von uns erzählen: Pierre Brice im Indochinakrieg. Mossul damals und heute. Die jährlichen Festlichkeiten in Bad Segeberg. Was hat das mit uns zu tun? Darum geht’s ja: May spricht zu Millionen. Es gibt Remakes, Gegenerzählungen, Parodien. Das Revuehafte, Angerissene, Rasante ist ja ein zentraler Bestandteil von Mays Texten und wurde es dann auch von unseren.Wussten Sie, in welches Hornissennest Sie da hineinstechen?Maci: Wir hatten eine Ahnung, aber wir sind furchtlos vorangeschritten!Nergiz: Das Hornissennest ist ja auch vielfältiger und friedlicher, als man denkt. Obwohl – oder vielleicht auch, weil – May ein Autor ist, der eher dem Trash zugerechnet wird, aber dadurch eben auch so wahnsinnig populär ist. Da er so viele Menschen anspricht, gibt es ja eine sehr große Wissensproduktion um ihn. Rund um die Karl-May-Gesellschaft gibt es viele Leute, die sich sehr ernsthaft mit Werk und Rezeptionskontext auseinandersetzen.Maci: Dann ist da natürlich noch die Frage: Was bedeutet Karl May? Betrachtet man ihn als Autor wahlweise trashig-kolonialkitschiger oder extrem fesselnder Abenteuergeschichten? Oder steht er für etwas anderes, für die Zeit nämlich, in der eine beliebige Person ihn gelesen hat? Die eigene Kindheit und Jugend. Eine Welt, in der „alles in Ordnung ist“. Ein vergangenes Deutschland, wenn man so will, oder eines, das nie existiert hat. Wenn er also für all diese Dinge stehen soll, dann wird jede kritische Auseinandersetzung mit der Figur May natürlich als existenzieller Angriff aufgefasst. Als Widerspruch gegen die, denen ein unwidersprochenes Leben versprochen war – auch wenn das natürlich nicht eingelöst wurde, wie auch.Was ist das für eine Topografie, die sich da in diesen Welten entfaltet?Nergiz: May zeichnet Landschaften voller Begehren. Ohne das, was stört, aber voll von dem, wonach er sich sehnt, materiell, aber auch moralisch. Hier ist er, der Kleinkriminelle, dem die bürgerliche Anerkennung im richtigen Leben versagt blieb, anerkannt und füllt die Position des Rechtschaffenen aus. Und hier morpht er die Landschaften ineinander, wenn er konkret über sie spricht, dann spricht er eigentlich über etwas anderes. Er beschreibt die Felslandschaften des amerikanischen Westens, indem er eigentlich die Sächsische Schweiz beschreibt. Und da stellt sich auch die historiografische Frage: Woher kennt er das? Aus Atlanten, Reisebeschreibungen und Lexika. Und auf dem Stand seines Wissens sind die Beschreibungen, die er liefert, ja durchaus „richtig“. Und das macht ihn so interessant: Dieses Spiel zwischen totaler Fiktion und akribischer Recherche. Manisch recherchiert er: tausend Quellen, tausend offene Tabs sozusagen. Und bleibt trotzdem dabei, dass es sich hier um seine persönlichen Erlebnisse handelt. Dass diese Geschichten wahr sind.„Für uns klingen da alle gegenwärtigen Fakes an.“ Eniz MaciMaci: Für uns klingen da all diese gegenwärtigen Fakes an: Irgendwie charmante Hochstaplerfiguren wie Anna Delvey oder Wolfgang Beltracchi. Syrische Explosionen, die in ukrainische Landschaften montiert werden, am Bildschirm. Besonders im Orientzyklus scheint May fast beliebig zu entscheiden, welchen Völkern er wohlgesonnen ist und welchen nicht. Dabei spielt das Quellenstudium natürlich eine entscheidende Rolle, was man etwa daran sieht, dass die Armenier in seinen Büchern und auch in den deutschen Quellen seiner Zeit mit Abstand am schlechtesten wegkommen. Den Völkermord an den Armeniern, bei dem das Deutsche Reich mithilft, erlebt er schon nicht mehr. May stirbt drei Jahre vorher.Nergiz: Ganz anders steht es mit den Jesiden. Da ist seine Hauptquelle Austen Henry Layards Auf der Suche nach Niniveh, wo die Jesiden als gutmütiges, mysteriöses Volk beschrieben werden, das dem Osmanischen Reich widersteht. Layard ist Brite, er hat kein Interesse daran, das Osmanische Reich schönzureden. Im Gegenteil, er bezeugt seine Massaker in Sindschar selbst. So werden die Jesiden bei May zum am positivsten besetzten Volk in seinem Orientzyklus.Placeholder image-1In Ihrem Buch schreiben Sie: „Bei May sind die Indigenen preußische Mystiker. Sie lieben Ordnung und Sauberkeit. Sie schützen die Natur.“Nergiz: May schreibt hier wieder über das Begehren. Die „Indianer“ sind bei ihm eine Projektionsfläche, die das Fremde lesbar macht, auch auf die Gefahr hin, dass es verzerrt wird. Ein Außerhalb der bürgerlichen Ordnung, ohne diese Ordnung zu zerstören, ohne moralische Grenzüberschreitungen. Seine „Indianer“ sind nicht völlig exotisch. Das sieht man auch an der Struktur der Winnetou-Trilogie. Sie ist ein totales Mash-up: Winnetou startet fremder, härter und wird dann im Verlauf der Handlung harmonischer, weil May festgestellt hat, dass sich der harmonische Winnetou besser verkaufen lässt. Das ist der Winnetou, von dem die Leute lesen wollen. Der Winnetou, der auf dem Sterbebett noch zum Christentum konvertiert.Maci: Spätestens in den Filmen der Nachkriegszeit mutiert das Winnetou-Konzept zur sich selbsterhaltenden Maschine. Diese Filme folgen dem Muster des Heimatfilmes. Nach den Schrecken des 20. Jahrhunderts erfolgt so eine zweite Lesbarmachung Mays. Es wird gesucht, was die Generationen wieder zusammenbringt.So ist May auch eine Figur, in der sich dieser Ballast des „Deutschen“ sedimentiert …Nergiz: Diese persönliche May-Genealogie fehlt uns. Deshalb ist der Essay in dieser Dialogizität geschrieben. Ein schreibendes Ich gegenüber einem anderen schreibenden Ich. Seine Rezeption ist ein kollektiver Vorgang, dem wir auch so begegnen wollten: im permanenten Dialog miteinander. Was lesen wir da? Wohin führt uns das? So entpuppt sich Karl May als viele Karl Mays, eben weil gar keine Genealogie da ist. Unser Buch ist also auch eine Geschichte darüber, wie zwei Freunde eine Obsession entwickeln, gemeinsam abstürzen im Rabbithole.
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