Dahiya-Doktrin: Diese unmenschlichen Angriffe auf Rafah sind kein Zufall
Zerstörung Schläge gegen die Zivilbevölkerung spielen eine zentrale Rolle beim brutalen, verlustreichen Vorgehen der israelischen Streitkräfte. Dies geht auf eine Strategie zurück, die maßgeblich mit dem Libanon-Krieg 2006 entstanden ist
Die Tötung von mindestens 45 Palästinensern in einer humanitären Zone in der Nähe von Rafah hat Empörung ausgelöst, die weit über den Nahen Osten hinausreicht. Dennoch geht Israels Offensive weiter. Anfang der Woche wurden mehrere israelische Panzer im Zentrum von Rafah gesichtet, so die Nachrichtenagentur Reuters. Dies geschieht, obwohl am Internationalen Strafgerichtshof (ICC) Haftbefehle gegen Benjamin Netanyahu und seinen Verteidigungsminister Joaw Galant sowie drei hochrangige Hamas-Führer beantragt sind – allen werden vom ICC-Chefankläger Karim Khan Kriegsverbrechen vorgeworfen.
rderte der Internationale Gerichtshof Ende vergangener Woche, dass Israel seinen Angriff auf Rafah umgehend einzustellen habe. Es gab einige Tage Anzeichen dafür, dass die israelische Führung von einem umfassenden Angriff Abstand nehmen könnte. Das in den USA ansässige Institute for the Study of War berichtete, dass die israelischen Streitkräfte (IDF) „weniger Luftwaffe und Artillerie sowie kleinere Bomben“ einsetzen und Soldaten „städtische Gebiete zu Fuß“ räumen würden.Der Krieg nähert sich seinem neunten MonatDies endete mit der Bombardierung des Gebiets Tal al-Sultan, wo der IDF-Angriff einen Großbrand in einem Zeltlager für Vertriebene auslöste. Netanyahu mag den Luftangriff als einen tragischen Unfall bezeichnen, doch das ändert nichts an der Situation nach gut acht Monaten ständiger israelischer Angriffe, bei denen schätzungsweise 36.000 Palästinenser getötet und etwa 80.000 verletzt wurden, wobei weitere 10.000 als vermisst gelten und vermutlich tot sind.Der Krieg nähert sich seinem neunten Monat, und in dieser Zeit hat die Netanjahu-Regierung wiederholt erklärt, dass man Gewalt gegen die Hamas und nicht gegen Zivilisten einsetze, aber das steht im Widerspruch zur tatsächlichen Kriegsführung.Von Anfang an dehnten die israelischen Streitkräfte ihre Operationen derart aus, dass sie weit mehr erfassten als die paramilitärischen Einheiten der Hamas. Schulen, Krankenhäuser, Wasseraufbereitungsanlagen und dergleichen waren frühe Ziele, ebenso wie Journalisten, internationale Helfer und medizinisches Personal. Die Islamische Universität, nur eine von zwei palästinensischen Hochschulen, die es zusammen mit der Birzeit University im Westjordanland geschafft hat, international wahrgenommen zu werden, wurde weniger als eine Woche nach Kriegsbeginn bombardiert.Die absichtliche Zerstörung ziviler, urbaner Infrastruktur kommt in der heutigen Kriegsführung beunruhigend häufig vor, sei es durch Russland in Mariupol oder durch die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich im irakischen Mossul, aber die schiere Zerstörungswucht der israelischen Kriegsführung übertrifft das noch. Dieser Einsatz „unverhältnismäßiger Gewalt“ könnte eine Erweiterung der Dahiya-Doktrin darstellen, die vermutlich in einem Bezirk von Beirut während des Libanonkrieges der israelischen Armee gegen die Hisbollah 2006 entstanden ist. Sie beruht auf der selten in der Öffentlichkeit zugegebenen Einsicht der IDF, dass es nahezu unmöglich ist, einen städtischen Aufstand zu besiegen – besonders, wenn die Aufständischen bereit sind, für ihre Sache zu sterben.Wie der Libanon-Krieg 2006 und die vier Gaza-Kriege seit 2008 gezeigt haben, beruht diese Doktrin auf der impliziten Einsicht, dass bei einer Anti-Aufstandsbekämpfung die israelischen Verluste zu hoch werden. Am Ende vor allem auch politisch inakzeptabel sind, selbst wenn die Verluste des Gegners – der Palästinenser oder Libanesen – zehn- oder zwanzigmal höher sind. Im Rahmen der Dahiya-Doktrin wird daher langanhaltende und weitreichende Gewalt gegen die allgemeine Zivilbevölkerung eingesetzt, um zwei konkrete Ziele zu erreichen: Das erste ist kurzfristiger Natur und soll die Unterstützung eines Aufstands untergraben, wobei das Ziel in Gaza darin besteht, es für die Hamas immer schwerer zu machen, selbst zu operieren. Das zweite Ziel besteht darin, künftige paramilitärische Bewegungen jeglicher Art abzuschrecken, sei es im Gazastreifen, im besetzten Westjordanland oder im Südlibanon. Um es ganz klar auszudrücken: Was derzeit Gaza angetan wird, droht jeder Bewegung, die Israels Sicherheit dort oder anderswo in Frage stellt.Tatsächlich läuft der Krieg für Israel schlechtEine der klarsten Analysen der bewussten Doktrin wurde 2008, zwei Jahre nach dem Libanonkrieg 2006, vom israelischen Institut für nationale Sicherheitsstudien veröffentlicht. Diese beschreibt detailliert den politischen Zweck der Doktrin, doch lässt sich das nur schwer mit dem Blutbad, der Zerstörung und den Tötungen des aktuellen Krieges vereinbaren.Um zu verstehen, warum Netanjahu weiterhin genügend innere Unterstützung für die Fortsetzung des Krieges erhält, müssen zwei Faktoren berücksichtigt werden. Einer davon sind die nachhaltigen Auswirkungen des Hamas-Angriffs im vergangenen Jahr. Auch wenn die Zahl der palästinensischen Todesopfer erschreckend hoch ist, haben doch die israelischen Verluste vom 7. Oktober 2023 die israelische Gesellschaft bis ins Mark erschüttert.Ein deutliches Indiz dafür, dass sich Israel seit Jahrzehnten in einem sicherheitspolitischen Widerspruch befindet: Einerseits scheint es uneinnehmbar und andererseits wegen des fundamentalen, Konflikts um Land und Völker stets unsicher zu sein. Diese „Unsicherheitsfalle“ wird auf unbestimmte Zeit bestehen bleiben, sofern keine gerechte Einigung mit den Palästinensern erzielt werden kann. Darüber hinaus mag sich Israel als Demokratie sehen, aber wenn man das gesamte von Israel kontrollierte Territorium berücksichtigt, ist es die nichtjüdische Bevölkerung dieses „Großisraels“, die derzeit eine Mehrheit hat.Ein zweites Moment ergibt sich aus der Tatsache, dass der Krieg für die Israelis schlecht läuft. Trotz einer massiven Gewaltanwendung der IDF und der Zerstörung großer Teile des Gazastreifens überlebt die Hamas und formiert sich immer wieder neu. Das Scheitern der IDF wurde bereits vor Monaten deutlich. Aber die Netanjahu-Regierung beharrt auf ihrem Vorgehen und kann sich dessen gewiss sein, dass US-Präsident Biden den einen entscheidenden Schritt, alle Waffenlieferungen nach Israel einzustellen, vorläufig nicht machen wird. Und solange die USA und auch Großbritannien sich weigern, die Entscheidungen des Internationalen Strafgerichtshof und des Internationalen Gerichtshofs zu akzeptieren, kann Netanyahu überleben.Möglich, dass ein Ende des Krieges von innen kommtEs gibt ein hoffnungsvolles Zeichen: Die öffentliche Stimmung in Israel ändert sich langsam, wie Bethan McKernan und Quique Kierszenbaum im Guardian berichtet haben. Nach dem Hamas-Angriff letzten Oktober waren 70 Prozent der Israelis der Meinung, dass der Krieg bis zur Beseitigung der Hamas weitergehen sollte. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass 62 Prozent der Meinung waren, dass dies nun unmöglich sei. Da Israel eine zutiefst polarisierte Gesellschaft bleibt, bedeutet das, es ist durchaus möglich, dass ein Ende des Krieges von innen kommt.
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