Israel/Gaza: Geiselfreilassung gegen Feuerpause – was das für Benjamin Netanjahu heißt
Kurswechsel Der Druck auf Benjamin Netanjahus Kabinett in Israel wurde immer größer. Jetzt hat Tel Aviv mit der Hamas ein Abkommen über die Freilassung israelischer Geiseln wie palästinensischer Inhaftierter und eine Feuerpause geschlossen
Die politische Zukunft von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu hängt vom Schicksal der Geiseln ab, aber auch davon, ob er sein Versprechen einer Eliminierung der Hamas halten kann.
Foto: Imago/Xinhua
Israel und die Hamas haben sich auf die Freilassung von 50 als Geiseln im Gazastreifen gehaltenen Frauen und Kindern geeinigt. Im Gegenzug sollen 150 palästinensische Frauen und Kinder aus israelischen Gefängnissen freikommen – während einer viertägigen Waffenruhe. Diese soll genutzt werden, damit Hilfskonvois über den ägyptischen Grenzübergang Rafah in den Gazastreifen gelangen, um die dortige humanitäre Krise zu lindern.
Netanjahus Ziel bleibt die Vernichtung der Hamas
Das Zustandekommen des Abkommens spiegelt einen Kurswechsel Benjamin Netanjahus wider, denn Israels Premierministers hatte sich seit Beginn der schlimmsten Sicherheitskrise in Israel in 50 Jahren kompromisslos gegeben.
Netanjahus grundsätzliche Position wird das sicher nicht
ion wird das sicher nicht aufweichen. Er hat von Anfang an darauf bestanden, dass Israels oberstes Ziel darin bestehen muss, die Hamas als militärische und politische Kraft im Gazastreifen auszuschalten. Davon, ob dies gelingt, hängte seine eigene politische Zukunft ab.Der Druck der AngehörigenDoch Netanjahu und sein Kriegskabinett, zu dem Hardliner wie Verteidigungsminister Yoav Gallant gehören, sind in den vergangenen Wochen gehörig unter Druck geraten, mehr für die Geiseln in Händen der Hamas zu tun – Angehörige der Gefangengehaltenen starteten einen riesigen, fünftägigen Marsch nach Jerusalem. Einige Familien warfen Netanjahu vor, das Leben ihrer Verwandten nachrangig zu behandeln.Auf diese wirksame Lobbyarbeit von Verwandten führen israelische Kommentatoren den Sinneswandel an der Regierungsspitze zurück; es habe sich verspätet die Erkenntnis durchgesetzt, dass die israelischen Streitkräfte (IDF) und das Sicherheitsestablishment eine Pflicht gegenüber israelischen Bürgerinnen und Bürgern haben, die schwerer wiegt als das Ziel der Vernichtung der Hamas. „Es scheint vor allem auf die Einsicht von Gallant und IDF-Stabschef Herzl Halevi zurückführen zu sein, dass es ungangbar geworden ist, sich ausschließlich auf die Militäroffensive im nördlichen Gazastreifen zu konzentrieren“, schrieb Haaretz-Kolumnist Amos Harel. „Das verteidigungspolitische Establishment, das für das schreckliche Versagen verantwortlich ist, das das Massaker vom 7. Oktober ermöglicht hat, muss damit beginnen, dies zu korrigieren. Und die Wiedergutmachung endet nicht mit der Eroberung von Gebieten und der Tötung von Terroristen. In erster Linie geht es darum, zumindest die Mütter und Kinder unter den Geiseln nach Hause zu bringen.“Die Umfragen stehen schlecht für Netanjahus LikudDas Kriegskabinett war in dieser Frage dem Vernehmen nach seit Wochen gespalten, wobei die Hardliner, darunter Netanjahu, davon überzeugt waren, unnachgiebiger militärischer Druck sei der beste Weg, um die Hamas zu schwächen und ihren Anführer in Gaza, Yahya Sinwar, zur Freilassung der Gefangenen zu bewegen. Andere waren der Meinung, dass Israel jetzt alles tun muss, was es kann, auch wenn das noch so unbefriedigend ist, bevor der internationale Druck, sich aus dem Gazastreifen zurückzuziehen, zu groß wird.Netanjahus Kurswechsel könnte entscheidend durch seine persönliche Begegnung mit den Familien der Geiseln beeinflusst worden sein, nachdem er sich wochenlang geweigert hatte, sie zu treffen. Netanjahu und seine Likud-Partei haben das Vertrauen der meisten Wähler verloren, die sie für die Versäumnisse und die Selbstgefälligkeit vom 7. Oktober verantwortlich machen. Umfragen deuten darauf hin, dass Netanjahus Likud bei Wahlen jetzt verlieren würde.Während die Opposition in Israel jedes Anzeichen von Bewegung in der Geiselfrage begrüßt, könnten sie versucht sein, Netanjahus schwankende Haltung als weiteres Indiz dafür hinzustellen, dass er nicht mehr über das ausreichende Urteilsvermögen verfügt und als Premierminister abgelöst werden sollte. Oppositionsführer Yair Lapid hat bereits den Rücktritt Netanjahus gefordert.Katar und die USA als VermittlerDie Einigung auf das Abkommen und ein damit einhergehender Waffenstillstand bedeuten nicht, dass der Krieg zu Ende ist oder dass die Geiselkrise gelöst ist. Er könnte mit noch mehr Wucht wieder aufflammen, nachdem beide Seiten Zeit hatten, sich neu zu formieren. Vermittler hingegen, vor allem Katar, aber auch aus Eigeninteresse die US-Regierung unter Joe Biden, werden diesen Durchbruch nutzen, um ihre Bemühungen um eine dauerhafte Beendigung der Kämpfe zu intensivieren.Der Druck der USA auf Netanjahu und das israelische Kriegskabinett hat in den vergangene Wochen stetig zugenommen – Präsident Biden hat es zuhause mit wachsender Besorgnis und Empörung über die Zahl der getöteten und verletzten Zivilisten in Gaza zu tun, gerade auch unter Anhängern der Demokratischen Partei. Nach Angaben der allerdings von der Hamas geführten Gesundheitsbehörde in Gaza sind dort seit Beginn der israelischen Angriffe mehr als 13.000 Palästinenser gestorben. Bei den Angriffen der Hamas am 7. Oktober starben etwa 1.200 Menschen, zumeist israelische Zivilisten. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass die meisten US-Amerikaner einen Waffenstillstand befürworten.Ein Geiselabkommen würde es Biden ermöglichen, zu behaupten, dass sein Einfluss hinter den Kulissen auf die israelische Führung, der er bei einem Besuch in Tel Aviv im vergangenen Monat seine uneingeschränkte Unterstützung zugesagt hat, Wirkung zeigt. Es könnte die scharfe Kritik an der US-Politik aus Ländern des globalen Südens entschärfen und die Differenzen mit europäischen Verbündeten wie Frankreich, das einen Waffenstillstand gefordert hat, abmildern.Die Argumente von Hamas-Führer Yahya SinwarDer Hamas spielt das Ausmaß der internationalen Verurteilung des israelischen Angriffs auf den Gazastreifen, insbesondere im arabischen und muslimischen Raum, in die Karten. Russland und China gehören zu den Ländern, die sich geweigert haben, die Hamas zu kritisieren. Die Kompromissresolution des UN-Sicherheitsrats von vergangener Woche enthielt keine Formulierung, die die Angriffe vom 7. Oktober verurteilte.Wie sich eine Einigung auf das künftige Verhalten der Hamas-Führung auswirken würde, ist ungewiss. Ihr Anführer Yahya Sinwar gilt als so wankelmütig wie radikal, jedenfalls nicht verlässlich rational. Anfang des Monats hatte er die Verhandlungen über die Geiseln plötzlich abbrechen, sie einige Tage später aber wieder aufnehmen lassen. Sinwar wird das Abkommen und den Waffenstillstand als taktischen Sieg und aufgehendes Kalkül hinter dem brutalen Angriff auf Israel verbuchen. Dem Iran und der übrigen arabischen Welt gegenüber dürfte er argumentieren, die israelische Seite trotz des enormen militärischen Gefälles zwischen beiden Seiten zu Zugeständnissen gezwungen zu haben, als Hamas die Attacken Israels bisher überlebt zu haben und sogar immer noch in der Lage zu sein, Raketen auf Israel abzuschießen und weiterzukämpfen.Sinwar hat jedoch nicht das alleinige und endgültige Sagen darüber, wie es weitergeht. Die politische Führung der Hamas im Exil in Katar, die von Ismail Haniyeh geleitet wird, hat das Geisel-Abkommen ausgehandelt, und ihre Auffassung von einer Vereinbarung und den nächsten Schritten wird nicht unbedingt mit der der Kämpfer vor Ort übereinstimmen. Mit anderen Worten: Differenzen innerhalb der Hamas, die denen innerhalb Israels nicht unähnlich sind, könnten die Freilassung der Geiseln torpedieren und künftige Bemühungen um einen dauerhaften Frieden zunichtemachen.
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