Questlove: Hip-Hops letztes Universalgenie

Porträt Der Schlagzeuger, DJ und Oscar-prämierte Regisseur ist ein wichtiger Bewahrer der Schwarzen Kultur. Dafür hat er unter anderem über 200.000 Platten gesammelt. Aber nun glaubt er immer öfter, dass er zu alt für Rap-Musik wird.
Questlove tritt mit den Roots fünfmal pro Woche als Hausband in Jimmy Fallons Tonight Show auf
Questlove tritt mit den Roots fünfmal pro Woche als Hausband in Jimmy Fallons Tonight Show auf

Foto: Leon Bennett/Getty Images/Netflix

Ahmir Thompson – besser bekannt als Questlove – seufzt, als er seinen Laptop umdreht. Ich sehe so das Innere seiner Wohnung. Und dabei geht es nicht um den schönen Blick auf die New Yorker Skyline durch das Fenster hinter ihm. Ein Chaos aus überquellenden Kisten und mit Papieren bedeckten Möbeln offenbart sich. „Ein ehemaliger Verleger von mir beschloss, dass er seine 8×10-Fotos und alten Artikel aus dem NME nicht mehr brauchte, also schenkte er sie mir“, sagt er achselzuckend.

Thompson ist zwiegespalten. Einerseits kann er seine Freude kaum zügeln: „Sieh dir das an“, schwärmt er und zeigt mir eine Einladung zur Premiere von dem Film Purple Rain aus dem Jahr 1984 mit Prince. Andererseits: Die Wohnung spricht eine ganz eigene Sprache.

„Viele kommen zu mir und sagen: Meine Kinder interessieren sich nicht so für dieses Zeug wie du. So werden mir viele Sachen vermacht. Das Universum hat mich in die Position des Bewahrers versetzt. Sei also vorsichtig, was du dir wünschst.“

So etwas passiert, wenn man bei einem der meistgelobten Musikdokumentationen der letzten Zeit Regie führt. Summer of Soul, die Oscar-gekrönte Ausgrabung vergessener Aufnahmen des Harlem Cultural Festival von 1969, war ein Film, der auch ernsthaft thematisierte, wie die afroamerikanische Kultur in Erinnerung gehalten und kuratiert wird. „Wir halten es für selbstverständlich, dass die Geschichte der Schwarzen ausgelöscht wird“, heißt es in einer Off-Stimme gegen Ende des Films. In der Folge, so Thompson, wurde er zwangsläufig zum „Geschichtshortungsspezialisten“.

„Ich hatte eine normale Plattensammlung“, sagt er, wobei er mit „normal“ lediglich „60.000 bis 70.000 Platten“ meint. Nach und nach fingen die Radiosender an, alles zu digitalisieren, weil sie mehr Platz bei sich schaffen wollten. Aber was sollten sie mit den ganzen Schallplatten machen? Wegwerfen? „So bekam ich erst einen Anruf von diesem Jazz-Sender in Alabama und diesem ehemaligen Soul-Sender in West Virginia: ,Hey Mann, wir haben 12.000 Stück, die wahrscheinlich auf den Müll wandern …’ So bin ich nun bei 200.000 Platten angelangt. Ich habe vier riesige Lagerräume.“ Er sieht gequält aus. „Allein diese Platten zu versichern und jemanden zu finden, der sie katalogisiert, ist fast so, als würde man ein weiteres Haus kaufen. Ich weiß nicht, ob ich das zu meinen Lebzeiten noch schaffen werde.“

Eine andere Sache, die passiert, wenn man bei einem der meistgelobten Musikdokumentarfilme der letzten Zeit Regie führt: Man bekommt unglaublich viel zu tun.

The Roots und ein immenses Arbeitspensum

Thompson ist ein unverbesserlicher Musik-Nerd. Im Laufe einer Stunde dreht sich unser Gespräch um alles, vom Free Jazz über seine Liebe zu den knorrigen britischen Prog-Rockern Gentle Giant bis hin zu der Frage, wie man Michael Jacksons Einfluss auf die Choreografie anderer Popstars in diejenigen unterteilen kann, die ihn vor dem Aufkommen des Videorekorders gesehen haben, und diejenigen, die ihm danach begegnet sind (er glaubt, dass die Bewegungen der letzteren Kategorie präziser und mechanischer sind, was auf die Funktionen wie Pause und Rücklauf zurückzuführen ist).

Außerdem ist er seit Langem für seinen akribischen „Mehr ist mehr“-Ansatz bei seiner Arbeit bekannt. Seine Band, The Roots, war dafür bekannt, Live-Shows zu spielen, die sich oft über drei Stunden erstreckten. Aus der spontanen Entscheidung, während der Lockdowns thematische DJ-Sets live zu streamen, wurde eine alles verzehrende Arbeit: Er verbrachte Tage damit, „jeden Song, den ich kenne, akribisch zu notieren und dann in Kategorien einzuordnen“. Als er beauftragt wurde, ein 13-minütiges Tribut für die Grammy-Verleihung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von Hip-Hop zu produzieren, gab er sich so viel Mühe, dass ihm vor lauter Stress die Zähne ausfielen. Aber nach dem Erfolg von Summer of Soul, sagt er, „hat es buchstäblich Projekte vom Himmel geregnet … Ich dachte nur: Ja. Ja. Ja. Ja. Ja.“

Daraus resultiert ein Arbeitsplan, der so intensiv ist, dass man schon beim bloßen Gedanken daran Kopfschmerzen bekommt. Die Roots treten fünfmal pro Woche als Hausband in Jimmy Fallons Tonight Show auf. Eine Rolle, die sie seit 2009 innehaben (obwohl sie schon damals fast gefeuert wurden, als sie eine Instrumentalversion von Fishbones Lyin' Ass Bitch als Begleitmusik für die rechte Politikerin Michele Bachmann spielten).

Ihr jährliches Festival, das Roots Picnic, findet am ersten Juni-Wochenende statt; und ein neues Roots-Album, ihr erstes seit dem 2014 erschienenen ...And Then You Shoot Your Cousin, ist in Arbeit. Es gibt Questloves Podcast und seine Arbeit als DJ – er schätzt, dass er in den letzten zehn Jahren „mindestens 40.000 Stunden“ als DJ aufgelegt hat – zusätzlich zu den sechs Filmprojekten, bei denen er derzeit Regie führt. Eines davon soll ein Live-Action-Remake des Disney-Klassikers Aristocats sein. Das einzige Projekt, über das er sprechen darf, ist ein fast fertiger Dokumentarfilm über Sly Stone, „ein 20.000 Teile umfassendes Puzzle, dessen Zusammensetzen eine Menge akribischer Arbeit auf schmalem Grat erforderte“. Der Film beschäftigt sich nicht nur mit seiner Musik sondern auch mit seinem Talent zur Selbstsabotage.

„Woodstock machte Sly Stone groß und zugleich zur ersten Figur in der Schwarzen Unterhaltungsbranche, die nach der Bürgerrechtsbewegung einen solchen Bekanntheitsgrad erreichte“, sagt er. „Damit unterscheidet sich seine Berühmtheit von der von Ray Charles, James Brown und Chuck Berry, die, während sie berühmt waren, wussten, was Rassentrennung bedeutet – James Brown durfte in dem Supper Club, in dem er auftrat, nicht essen. Aber was passiert, wenn man plötzlich alles bekommt, was man schon immer wollte? Mir wurde klar, dass Sly Stone der erste Domino von einer Milliarde Dominosteinen der Selbstsabotage ist. Sie kommt bei Künstlern vor, manchmal absichtlich, oft aber auch unabsichtlich oder unbewusst. Abgesehen davon, dass er ein musikalischer Pionier ist, wollte ich wissen, ob sein Leben auch die Blaupause für jeden Schwarzen Künstler ist, der durch diesen Hindernisparcours geht und es nicht auf die andere Seite schafft.“

Das große Hip-Hop-Buch

Und dann ist da noch sein neuestes Buch, das achte in einer Bibliographie, die von Kochbüchern über Bestseller über die Bedeutung von Kreativität bis hin zu Science-Fiction-Romanen für junge Erwachsene einiges umfasst. Hip-Hop Is History, das er gemeinsam mit seinem literarischen Kollegen Ben Greenman geschrieben hat, verbindet eine detaillierte chronologische Nacherzählung der Geschichte des Genres mit gelegentlich haarsträubenden Memoiren, die an Ereignisse wie die Source Awards 1995 erinnern, als die Rivalität zwischen der Ostküste und der Westküste, die schließlich das Leben von Tupac Shakur und Biggie Smalls forderte, zum ersten Mal in der Öffentlichkeit ausbrach und die Roots sich unangenehm direkt zwischen den beiden Kriegsparteien wiederfanden.

Es gibt auch einige beeindruckend originelle Theorien. Er sieht den Wu-Tang Clan als Popband, die die Art von Kultur verkörperte, die Schwarze Schlüsselkinder ihrer Generation an endlosen Fernsehnachmittagen in sich aufsogen; und er sieht den matschigen, drogengeschwängerten SoundCloud-Rap der 2010er Jahre als den Sound des jungen Schwarzen Amerikas, das sich selbst betäubte, als sich das Versprechen der Obama-Jahre in Luft auflöste.

Er sagt, er sei von dem Gefühl getrieben worden, dass Hip-Hop sich schwer getan habe, seine eigene Geschichte zu begreifen, auch weil sich niemand, der in den Anfangsjahren beteiligt war, für die Nachwelt interessierte. „Die ersten Teilnehmer traten in diese Kultur in einer Atmosphäre des Kampfes oder der Flucht, des Überlebenskampfes ein, in der es darum ging, mit allen Mitteln die nächsten 24 Stunden zu überstehen. Es ist nicht so, dass ich mich darauf eingelassen habe, weil es meine einzige Möglichkeit war, zu überleben – Es war der einzige Weg, dem zu entkommen, was meine Eltern von mir wollten, nämlich auf ein klassisches Konservatorium zu gehen. Als die Roots anfingen, mussten wir an den Straßenecken spielen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir zogen nach London, wo zumindest die Idee einer Band nichts Neues war, wir waren für drei Auftritte im Jazz Café gebucht und die Unterstützung der Plattenfirma reichte für fünf Tage. Die Leute lebten in den Tag hinein, für den Moment und dachten nicht an die Geschichte. Deshalb sage ich Künstlern heute: Kumpel, jeder Skizzenblock, jede Richtung, die du einschlägst, speichere deine ganze Geschichte, denn du weißt nie, wann du sie brauchen wirst.“

Hip-Hop zog Thompson von Anfang an in seinen Bann. Er war bereits ein Musikfan und Schlagzeuger – seine Eltern waren beide Musiker –, aber als er als Achtjähriger Rapper's Delight im Radio hörte, änderte sich alles. Bezeichnenderweise reagierte er sofort auf den bizarren Klang von „jemandem, der auf einer Schallplatte spricht, anstatt eine Melodie zu spielen“, indem er zu seinem Kassettenrekorder eilte, um den Rest des Liedes aufzunehmen, und dann die halbe Nacht wach blieb, um den Text auswendig zu lernen. „Am nächsten Tag war ich eine Berühmtheit in der Schule – ich sang ihn vor Mädchen, die beeindruckt waren, und da wurde mir die Magie bewusst: Ich trete auf und die Leute hören mir zu, und das ist ein gutes Gefühl. Es ist irgendwie seltsam, wie Rapper's Delight den Samen für den Rest meines künstlerischen Lebens gepflanzt hat.“

Kendrick Lamar vs. Drake – Zu alt für Rap?

Videorekorder hin oder her, an Michael Jacksons Genie kam man nie heran – aber Hip-Hop hatte etwas Erreichbares. „Run-DMC“, sagt er mit einem Nicken. „Vor dieser Zeit Stars die, die etwas Ausgeflipptes trugen. Parliament sahen nicht aus wie meine Onkel, die Temptations nicht, Sly and the Family Stone, keiner von ihnen. Die Idee, Adidas zu tragen, war hingegen erschwinglich. Man konnte ein Paar Superstars, eine schwarze Lee-Jeans und ein schwarzes T-Shirt kaufen, und schon sah man aus wie Run-DMC.“

Seiner Meinung nach ist Hip-Hop heute nicht mehr so leicht zugänglich wie damals. „Das war um 1997. 20 Jahre nach seiner Gründung stellt man im Hip-Hop fest: Oh, wir sind jetzt das Establishment, gegen das wir einst waren“, sagt er. „Und plötzlich hieß es: Hey, das ist jetzt mein Lebensstil, und ihr habt keinen Zugang dazu. So wurde es zu einer Neiddebatte.“

Es ist nicht das erste Mal, dass Thompson Vorbehalte gegen die Richtung äußert, in die sich Hip-Hop entwickelt: Hip-Hop Is History ist gespickt mit Momenten, in denen er sich, verwirrt von einem neuen Album oder Subgenre, laut fragt, ob diese Musik noch etwas für ihn ist, bevor er es sich wieder anders überlegt.

So auch bei dem Beef zwischen Drake und Kendrick Lamar: Als an einem Tag eine Flut von Diss-Tracks auftauchte, saß er nachts um ein Uhr davor, spielte die Tracks mit doppelter Geschwindigkeit auf YouTube ab und las die Texte online. „Kennst du den Moment in Filmen, wenn der alte Kerl im Club ist und denkt: Vielleicht sollte ich nicht hier sein?“, lacht er. „Ich will nicht übertreiben, aber ich dachte: Bin ich durch damit? So wie mein Vater fertig war, als er Stevie Wonders Journey Through the Secret Life of Plants hörte: Wir kauften ständig Platten und hörten sie gemeinsam an, dabei unterrichtete er mich in Sachen Musik. Aber als er dieses Album hörte, legte er Schwert und Schild nieder und ging einfach weg.“

Er ärgert sich über die „Schlammschlacht“ in der Drake-Kendrick-Saga: „Ich versuche nicht, moralisch zu sein; ich kenne diese Welt und ich liebe sie alle. Aber wenn ich so was kontrollieren würde, hätte ich es lieber gesehen, dass einer sagt: In Ordnung, ich werde jetzt den Song schreiben, der mich zu einem lyrischen Gott macht. Das hier ist mein Skill-Level, und du musst nicht mal das Thema sein.“

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Geschrieben von

Alexis Petridis | The Guardian

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