Selenskyj: „Wir sehen die Russen, aber können sie nicht erreichen“
Krieg In einem exklusiven Interview mit dem britischen „Guardian“ spricht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj über Joe Bidens Entscheidung, US-Waffen auch gegen Ziele in Russland einsetzen zu dürfen. Dies reiche jedoch noch nicht aus
Selenskyj über die russische Seite: „Ich glaube, manchmal lachen sie einfach“
Foto: Roman Pilepey/AFP/Getty Images
Die späte Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden über den Einsatz westlicher Waffen gegen bestimmte Ziele in Russland führte dazu, dass Kreml-Kräfte die Ukraine auslachen und das ukrainische Volk „jagen“ konnten, so Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit dem britischen Guardian. In dem ausführlichen Gespräch in Kiew sagte der ukrainische Präsident, die Unentschlossenheit des Weißen Hauses habe Menschenleben gekostet, und er forderte den US-Präsidenten auf, seine Sorgen vor einer mögliche nukleare „Eskalation“ mit Moskau zu überwinden.
Am Donnerstagabend wurde bekannt, dass die USA nach monatelangem Drängen einen kleinen, aber symbolischen Schritt unternommen haben und dem Kiewer Militär zum
r Militär zum ersten Mal erlauben, zur Verteidigung der Stadt Charkiw einige in den USA hergestellte Waffen innerhalb Russlands einzusetzen. In seinem Interview mit dem Guardian machte Selenskyj jedoch deutlich, dass er in die Lage kommen wolle, „leistungsstarke“ Langstreckenwaffen einzusetzen, die Ziele tief im russischen Staatsgebiet treffen können – eine rote Linie, die das Weiße Haus nicht aufgeben will. Die USA, so sagte er, müssten „mehr an uns glauben“.Ohne dieses grüne Licht würden auch andere Verbündete wie Großbritannien der Ukraine möglicherweise nicht erlauben, ihre Langstreckenwaffen einzusetzen. „Glauben Sie uns, wir müssen reagieren. Sie verstehen nichts anderes als Gewalt. Wir sind nicht das erste und nicht das letzte Ziel“, sagte er über Russland. „Ich denke, es ist absolut unlogisch, [westliche] Waffen zu haben und die Mörder, die Terroristen, die uns töten, auf der russischen Seite zu sehen. Ich glaube, manchmal lachen sie einfach über diese Situation“, sagte er. „Es ist, als ob man für sie auf die Jagd geht. Auf die Jagd nach Menschen. Sie verstehen, dass wir sie sehen können, aber wir können sie nicht erreichen“.„Putin ist nicht verrückt, er ist gefährlich“Selenskyj sagte weiter in dem Interview:Neue US-Waffen seien noch nicht in ausreichender Menge eingetroffen, um zusätzliche ukrainische Brigaden im Nordosten auszurüsten, wo Russland auf dem Vormarsch ist.Wladimir Putin sei ähnlich wie Adolf Hitler: „Putin ist nicht verrückt. Er ist gefährlich, was viel beängstigender ist.“Er hatte den ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson gebeten, im Vorfeld einer Abstimmung im US-Kongress im April, bei der es um die Bewilligung von Hilfsgeldern in Höhe von 61 Milliarden Dollar für die Ukraine ging, auf Donald Trump einzuwirken, was von den rechtsgerichteten Republikanern abgelehnt worden war.Der britische Labour-Chef Keir Starmer, den er letztes Jahr in Kiew traf, sei ein „guter Kerl“. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Rishi [Sunak] ist auch ein guter Kerl.“Selenskyjs Äußerungen fielen in eine Zeit, in der die Regierung Biden am Donnerstag ihre langjährige Politik lockerte, die der Ukraine den Einsatz von US-Waffen gegen Ziele in Russland untersagte. Sie erteilte der Ukraine die Erlaubnis, zurückzuschießen – allerdings nur in der Nähe von Charkiw, wo Moskau eine neue Offensive gestartet hat. Die Entscheidung erlaubt es der Ukraine, die von den USA gelieferte Himars-Artillerie gegen russische Soldaten und Kommando- und Kontrollzentren einzusetzen. Der Pressesprecher von Selenskyj, Serhii Nykyforov, begrüßte den Schritt der USA. Er sagte dem Guardian: „Das wird unsere Fähigkeit erheblich verbessern, russischen Versuchen entgegenzuwirken, über die Grenze zu drängen.“Das Weiße Haus beharrte jedoch darauf, dass sich an seiner Politik, tiefere Schläge nach Russland zu verbieten, nichts geändert habe. Die Ukraine werde weiterhin nicht in der Lage sein, das Langstreckenraketen-System Atacms innerhalb Russlands zu nutzen, hieß es.Langstreckenraketen auf Russland?In einer Rede im Präsidialamt machte Selenskyj deutlich, dass er Langstreckenwaffen wie die im Vereinigten Königreich hergestellten Storm-Shadow-Raketen einsetzen wolle. Er sagte, dass das Vereinigte Königreich trotz gegenteiliger Berichte keine „hundertprozentige Erlaubnis“ dazu erteilt habe. Es ist unwahrscheinlich, dass die Entscheidung vom Donnerstag diese Position ändern wird.In Wirklichkeit warte Downing Street auf die Amerikaner, meinte Selenskyj. „Wir haben dieses Thema zweimal angesprochen. Wir haben keine Bestätigung von ihm [David Cameron, dem Außenminister] erhalten“, sagte er. Eine endgültige Entscheidung des Vereinigten Königreichs und anderer Partner hänge von einem „Konsens“ ab, wobei die Position in Washington entscheidend sei, so Selenskyj: „Sie wissen, wie das funktioniert.“Joe Biden ist seit Längerem besorgt über die Risiken eines direkten Atomkonflikts mit Moskau. Der US-Präsident wird wahrscheinlich nicht an einem Friedensgipfel in der Schweiz im nächsten Monat teilnehmen, den Selenskyj organisiert hat. Auf die Frage, ob er sich von den USA und ihrer Führung im Stich gelassen fühle, antwortete er: „Ich denke, sie müssen mehr an uns glauben“. Zehn Länder hatten ihre Unterstützung für die Abschaffung der „roten Linien“ signalisiert. Der französische Präsident Emmanuel Macron hatte am Mittwoch seine Unterstützung zugesagt und erklärt, die Ukraine könne französische Scalp-Langstreckenraketen gegen feindliche russische Militäreinrichtungen einsetzen.Ein Dialog braucht Zeit, im Krieg ist Zeit rarIn der vergangenen Woche hat Russland mindestens 25 Zivilisten in Charkiw mit Lenkbomben getötet. Der Ukraine sei es jedoch nicht erlaubt worden, auf Russland zu schießen, sagte Selenskyj. Sie verfüge auch nicht über genügend konventionelle Waffen, um Reservebrigaden auszurüsten, die eingesetzt werden könnten, um die Russen zu vertreiben.„Niemand beschuldigt irgendjemanden“, sagte er. „Wir sind da, wo wir sind. Wir kämpfen, und wir sind im Krieg, und nicht am Anfang. Deshalb müssen wir jeden Tag einen Ausweg aus dieser Situation finden“. Selenskyj stellte fest, dass die westlichen Länder, die sich im Frieden befinden, „andere Prioritäten“ hätten und verständlicherweise nicht das Gefühl der existenziellen Dringlichkeit der Ukraine teilten. Dies bedeute, dass ein „Dialog“ anstelle von Taten frustrierend sein könne. „Für uns ist Zeit unser Leben“, sagte er. „Wenn man nicht in einer Minute [in einen Bunker] geht, kann man tot sein. Deshalb ist die Einstellung zu Zeit eine völlig andere.“
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