Julian Assange erscheint vor einem US-Gericht auf Saipan (26.06.2024)
Foto: Yuichi Yamazaki/AFP/Getty Images
Da hat US-Präsident Joe Biden es ihm aber gezeigt! Er ist dem selbst ernannten „Deal-Maker“ Donald Trump mit einem Deal zuvorgekommen, exakt drei Tage vor dem ersten Fernsehduell der beiden Kontrahenten an diesem Donnerstag. Die US-Justiz einigte sich am vergangenen Montag mit Julian Assanges Verteidigern auf einen sogenannten Plea Deal. Das ist ein in den USA weit verbreitetes Verfahren, bei dem Ankläger und Angeklagte ein geheim verhandeltes Abkommen schließen, um – ganz pragmatisch – Zeit und Geld zu sparen und potenziell unerfreuliche Entwicklungen für die eine oder die andere Prozesspartei zu vermeiden. In der heißen Phase des US-Wahlkampfs wäre eine Auslieferung oder gar der Tod des Angeklagten eine für die US-Regierung unber
berechenbare Belastung gewesen.Eine umstrittene AbmachungDer Deal, der nun zur Freilassung des wohl berühmtesten politischen Gefangenen der westlichen Hemisphäre führt, fußt allerdings – trotz aller Erleichterung, die das Ende der Politfarce weltweit ausgelöst hat – auf einer höchst umstrittenen Abmachung. Sie beruht auf einem undurchsichtigen System von Belohnungen, unterschwelligen Drohungen und Zwangsmaßnahmen. Der viele Jahre an der renommierten Yale-Universität lehrende Professor für Rechtsgeschichte, John H. Langbein, kommt in seiner Einschätzung dieses Systems der Absprachen bei der Aushandlung von Schuldsprüchen zu dem vernichtenden Urteil, es sei wohl am ehesten mit der mittelalterlichen Folter vergleichbar. Bekennt sich ein Delinquent in einem minder schweren Anklagepunkt für schuldig, so werden ihm die mit höheren Strafen belegten Anklagepunkte gnädig erlassen.Diese (Erpressungs-)Methode hat im amerikanischen Justizsystem zu einer regelrechten Inflation der Anklagepunkte geführt, im Fall Assange brachten es die Staatsanwälte auf immerhin 18. Das heißt, es werden vorsorglich mehr Anklagen erhoben als nötig. Der Staat kann dann so lange mit ihnen jonglieren, bis das gewünschte Ergebnis erreicht ist. Ins Foltersystem übersetzt: Man zeigt dem Delinquenten die verschiedenen Folterinstrumente und bedeutet ihm, er könne sich absolut frei für dieses oder jenes Zwangsmittel entscheiden. Diese für einen Rechtsstaat unwürdige Methode ist deshalb mit gutem Grund in vielen europäischen Staaten verboten. Sie ermöglicht Verurteilungen ohne öffentliche Verhandlung und Urteilsspruch. Im Grunde ist es ein staatlicher Willkürakt.Der zwischen der US-Justiz und Assanges Anwälten vereinbarte „Handel“ besagt: Julian Assange bekennt sich in einem der 18 Anklagepunkte für schuldig und erklärt vor einem US-Gericht, er habe gegen den „Espionage Act“, das Spionagegesetz von 1917 verstoßen. Konkret: Er habe sich mit der US-Soldatin Chelsea Manning zur unrechtmäßigen Beschaffung und Verbreitung geheimer Informationen verschworen und der Landesverteidigung damit erheblichen Schaden zugefügt.Im Gegenzug sichert die Staatsanwaltschaft dem Beschuldigten genau jenes Strafmaß zu, das der von ihm im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh bereits abgesessenen Haftzeit entspricht. Da sich Assange weigerte, sein „Geständnis“ vor einem Gericht in den Vereinigten Staaten abzulegen, musste ein geeigneter Ort außerhalb gesucht werden. Man einigte sich schließlich auf einen Ort am Ende der Welt, der zwar ebenfalls unter US-Kontrolle steht, aber fernab in einem „Außengebiet“ im Westpazifik liegt, genauer gesagt auf Saipan, der Hauptinsel der Nördlichen Marianen, die rund 2.500 Kilometer nördlich von Australien und rund 2.500 Kilometer südlich von Japan liegen.Dieser Gerichtsort mag auf den ersten Blick bizarr erscheinen, ist aber geschichtlich nicht uninteressant. Hier im westlichen Pazifik begann – nach dem Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898 – der Aufstieg der USA zur Weltmacht, hier wurde aus der vormaligen britischen Kolonie, die jeden Kolonialismus ablehnte, selbst eine Kolonialmacht, die sich „Außengebiete“ statt Kolonien zulegte und mit den übrigen imperialistischen Staaten, vor allem mit Frankreich, Großbritannien und Deutschland, in heftige Konkurrenz trat, speziell im Hinblick auf eine erstrebte „Öffnung“ des künftigen Weltmarkts China. Von hier aus holten die USA im Zweiten Weltkrieg zum entscheidenden Schlag gegen Japan aus, denn von den Marianen erreichten die B-29-Bomber die japanischen Hauptinseln. Hier starteten im August 1945 auch die Bomber Enola Gay und Bockscar, um ihre Atombomben „Little Boy“ und „Fat Man“ über Hiroshima und Nagasaki auszuklinken.Die Weltmacht USA war mit ihren Kriegsverbrechen nie zimperlich, wer sie aufdeckte, wie Julian Assange in Bezug auf die Kriegsführung in Afghanistan und Irak, musste mit harten Konsequenzen rechnen. Das ist die übergeordnete Lehre aus der in der modernen Geschichte sicherlich einzigartigen Verfolgung einer Einzelperson durch eine Weltmacht: Wer sich mit uns anlegt, hieß das, muss büßen. Er muss vor aller Welt seine Schuld eingestehen oder wir lassen ihn gnadenlos jagen und vernichten. Zugleich wird für alle, die künftig Ähnliches vorhaben, egal ob Whistleblower oder Journalist, ein Exempel statuiert. Die Ansage lautet: Wir bestimmen die Regeln. Denn Macht geht vor Recht.Auch Deutschland ist mit dem Gerichtsort im US-„Außengebiet“ eng verbunden. Nach der Niederlage der Spanier gegen die USA nutzte das Deutsche Kaiserreich die Schwäche Spaniens aus und erpresste – in Absprache mit den USA – den Verkauf der Nördlichen Marianen an Deutschland. Die Regierung zahlte für die gesamte Inselkette 16,5 Millionen Mark. Der Reichstag billigte das Geschäft, allerdings gegen die Stimmen von SPD und Linksliberalen, denen das Geschäft zu teuer war. Die auf diese Weise Anfang 1899 erworbenen Inseln sollten dem Deutschen Reich als Ausgangsbasis für weitere koloniale Erwerbungen im Indopazifik dienen. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs stand Saipan daher unter deutscher Verwaltung und zählte zum kaiserlichen „Schutzgebiet Deutsch-Neuguinea“.Placeholder image-1An diesem Ort – wo es garantiert keine Proteste von Unterstützern gibt – hat Julian Assange nach seinem Schuldeingeständnis das Gericht als freier Mann verlassen. Anschließend kann er – nach 14 Jahren Flucht, Isolationshaft und entnervender Strafverfolgungsverschleppung durch schwedische, britische und US-Justizbehörden – gemeinsam mit seiner Frau Stella Moris und den Kindern Max und Gabriel ein normales Leben führen, im Schutz seiner Heimat Australien oder anderswo.Möglich gemacht hat dies, das darf nicht vergessen werden, in erster Linie seine Familie sowie eine globale Kampagne unentwegter Aktivisten, die seit Assanges Verhaftung im Jahr 2019 nicht lockerließen. Möglich gemacht hat den Deal am Ende aber vor allem die australische Regierung, die sich nach langem Zögern dazu bereit erklärte, ihrem Staatsbürger Assange die nötige Unterstützung zu gewähren. Die Europäische Union dagegen – die sich gern lautstark für politische Gefangene und Pressefreiheit in Russland, China oder Iran einsetzt – hat gegenüber ihrer Vormacht USA jämmerlich versagt.Wie mag sich Julian Assange, der strahlende, von vielen gefeierte Enthüllungsheld des Jahres 2010 nun als vorbestrafter 52-Jähriger fühlen? Ist er tatsächlich frei? Oder trägt er, als Teil des Deals, eine unsichtbare elektronische Fußfessel, die ihm jede öffentliche Stellungnahme zu den Vorgängen und Interna des Deal-Makings verbietet? In der Regel zählt die Schweigepflicht zu den wichtigsten Klauseln solcher Abmachungen. Ob sich der Anarchist Assange auf Dauer daran hält? Verlage und Journalisten werden ihm bereits jetzt auf den Fersen sein. Wer bekommt das erste Exklusiv-Interview?Aber Assange ist gewarnt. Jene Medien, die von ihm profitierten, gingen schnell auf Distanz, als die US-Diskreditierungskampagne gegen Assange Wirkung zeigte. Immer wenn es ungemütlich wurde, schlugen sie sich in die Büsche. Auch die aktuelle Berichterstattung – etwa der Washington Post oder der FAZ – ist erkennbar um Distanz bemüht. Es ist schließlich Wahlkampf in den USA, man hat für beide Seiten großes Verständnis, sowohl für die Staatsräson als auch für die Pressefreiheit, also hält man sich mit Kritik am Deal zurück oder flicht pflichtschuldig ein, der Journalismus habe eine Niederlage erlitten, der Umgang mit Militär- und Staatsgeheimnissen werde nun schwieriger werden, aber viele Enthüllungen beschränken sich sowieso längst auf die üblichen Schurkenstaaten.Auch Assange selbst ist – zumindest äußerlich – verändert. Bei seiner Verhaftung durch die britische Polizei vor fünf Jahren wirkte er auf viele wie ein renitenter bärtiger Zausel, man war zutiefst erschrocken über seine „Verwahrlosung“, nun ist er dick und aufgeschwemmt von der langen Haft, das einst silberweiße dichte Haar ist glatt zurückgekämmt und schütter. Er wird viel Zeit brauchen, um sich zu erholen, aber auch, um seine politischen Enttäuschungen zu verarbeiten.Journalist oder doch keiner?„Whistleblower einigt sich mit US-Justiz“, heißt es nun in vielen Medien. „Wikileaks-Gründer kommt frei“, ruft die Tagesschau. Die Bezeichnung Journalist wird dabei sorgfältig vermieden. Der Kampf um die Deutungshoheit scheint mit dem Deal ad acta gelegt, das leidige Thema Assange kann abgehakt werden. Wenden wir uns wichtigeren Themen zu. So könnte auch US-Präsident Joe Biden reagieren, sollten ihn die CNN-Moderatoren beim ersten Fernsehduell in dieser Woche tatsächlich auf den Deal ansprechen.Denn das, was Wikileaks ursprünglich enthüllt hat, interessiert kaum noch. Ein Collateral-Murder-Video wie das aus dem Irak-Krieg, das Wikileaks im Jahr 2010 veröffentlicht hat, löst in Zeiten, in denen es weltweit fast täglich Collateral-Murder-Handyvideos gibt, keine Schockwellen mehr aus. Vielleicht haben Assange und seine Anwälte auch deshalb dem krummen Plea Deal zugestimmt, weil ihnen dieser Umstand in den letzten Monaten und Jahren allmählich bewusst wurde. Die Zeit ist über Assange und Wikileaks hinweggegangen.Ist Wikileaks damit endgültig Geschichte? Keineswegs, denn Wikileaks ist heute überall. In der Ukraine, in Gaza, im Sudan, im Jemen, in Äthiopien, in Myanmar. Überall, wo es Handys gibt, die Kriegsverbrechen dokumentieren können. Julian Assange war nur ihr Vorläufer. Der, der allen den Weg vorgezeigt hat.Eingebetteter Medieninhalt
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