Dessau ist eine sterbende Stadt. Aber das ist kein Grund, zu verzweifeln. Das radikale Gegenkonzept zeigt die Kommune auf der diesjährigen IBA in Sachsen-Anhalt
Wie ein Ausrufezeichen steht der alte Räucherturm in der Landschaft. Geräuchert wird hier nicht mehr. Dafür kann man jetzt in die Ferne schauen. Wer die vielen Stufen zur neuen Aussichtsplattform hinaufsteigt, hat einen weiten Blick über Dessau – und auf die neue Landschaft mit wilden Wiesen, die in die Stadt hineinwächst: vom Bahnhof bis in die Südstadt, ins Viertel am Leipziger Tor, wo sie sich vor den Plattenbauten ausbreitet. Kaum jemand würde vermuten, dass dort, wo Schafgarbe, Klee und Löwenzahn wachsen, noch vor kurzem Fabriken standen, Wohnhäuser, eine Schule, ein dicht bebauter Straßenzug.
Man sieht nur, was man weiß. Die neue Landschaft ist keineswegs so wild, wie es auf den ersten Blick scheint: Sie ist aus der Not gebo
r Not geboren und aus komplizierten Planungsprozessen, sie ist mühsam erworben und wird kontrovers diskutiert.Schafgarbe und Klee sind nun Teil der Internationalen Bauausstellung (IBA) Sachsen-Anhalt, die 2010 beginnt. Die IBA mit ihrer 100-jährigen Tradition ist keine konventionelle Ausstellung. Zu besichtigen sind nicht Bilder, sondern Städte: gebaute Wirklichkeit. Es geht um neue Impulse und innovative Ideen in der Planungs- und Baukultur. Mit Sachsen-Anhalt ist 2010 erstmals ein ganzes Bundesland Thema der IBA. Dessau ist eine von 19 Städten, die mit beispielhaften Konzepten und Modellvorhaben zeigen, wie sie mit den dramatischen Umwälzungs- und Schrumpfungsprozessen umgehen, die die Region seit 1989 erlebt.Die „Bauhausstadt“ war immer stolz auf ihre Industrietraditionen. Nach der Wende verlor sie über Nacht ihre Existenzgrundlage. Großkombinate wurden aufgelöst, privatisiert, abgewickelt. Binnen weniger Jahre verlor die Stadt nahezu alle Industriearbeitsplätze und in der Folge ein Viertel ihrer Einwohner. Die Sterberate ist inzwischen doppelt so hoch wie die Geburtenrate. Prognosen zufolge wird im Jahr 2020 von den einst 100.000 Bewohnern nur noch die Hälfte übrig sein. Eine halbierte Stadt. Wie reagiert man darauf?Karl Gröger ist ein massiger, freundlicher Mann, der das Anpacken gewohnt ist. Er kommt von hier, war bis 2008 Baudezernent in Dessau und kurzzeitig auch Bürgermeister. „Noch im Jahr 2000 glaubten wir, die Einwohnerzahl von 1990 halten zu können. Alle dachten, man müsse nur mit großen Infrastrukturprojekten den Arbeitsmarkt wieder beleben“, sagt er.Es dauerte einige Jahre, bis man in Dessau begriff, was viele ostdeutsche Städte begreifen mussten: Dass die industrielle Basis unwiderruflich zerstört war und die Schrumpfung damit auf lange Sicht unumkehrbar war. Weder Autobahnanschlüsse noch „beleuchtete Kuhweiden“ – neue, komplett erschlossene Gewerbegebiete – konnten daran etwas ändern. Der Exodus hielt an. Ende der 90er verließen jährlich 4.000 Dessauer die Stadt, doch noch immer entstanden neue Eigenheimsiedlungen und Gewerbegebiete. Gröger: „Das Umdenken war ein langer Prozess. Planungen waren ja immer auf Zuwachs ausgerichtet.“ Bald hatte Dessau nur noch 70.000 Einwohner. 1999 war offiziell ein Viertel der berufsfähigen Bevölkerung arbeitslos, die tatsächliche Zahl lag weit höher.Eine intelligente Antwort findenFür Schrumpfung gibt es in einer auf Wachstum konditionierten Gesellschaft keine Patentrezepte. Heike Brückner ist Stadtplanerin im IBA-Büro am Bauhaus. „Wir hatten einen Leerstand von 6.000 Wohnungen“, erzählt sie. „Das ist soviel wie ein ganzer Stadtteil. Da war die Frage, wo man abreißen soll. Man kann ja nicht einfach an einer Stelle ein großes Loch in die Stadt reißen. Es ging darum, eine intelligente Antwort zu finden.“Heike Brückner sitzt vor dem Bauhaus. Touristen, die Dessau besuchen, kommen stets hierher, besichtigen das Weltkulturerbe, den lichten Gropius-Bau, die Moderne der 20er und 30er, das Gartenreich. Doch wer durch Dessau geht, erlebt die Zerrissenheit der Stadt. Im Krieg zu 80 Prozent zerstört, ist sie ein zerlöchertes Konglomerat unterschiedlicher Zeitschichten: Klassizistische und Gründerzeitbauten. Dem Verfall anheim gegebene Werkssiedlungen. Ein protziger Nazi-Theaterbau. Überbreite Straßen. Nachkriegsbauten aus den 50ern, Plattenbauviertel. Investorenklötze der Nachwendezeit, wuchtige Shopping Malls.Wie schwierig es ist, mit der Geschichte umzugehen, ahnt man schon im Hauptbahnhof, einem klassischen 50er-Jahre-Bau. In der Eingangshalle künden zwei Wandgemälde von einstigen Utopien – sozialistischer Realismus links, eine Hommage an die Bauhaus-Moderne rechts. Der Traum vom Sozialismus ist inzwischen hinter einer riesigen elektronischen Werbetafel verschwunden, die Bauhaus-Hommage halb hinter dem „DB-Servicepoint“ versteckt. Und nahe dem Bauhaus lauert ein monströs aufgeblähter Gebäudekomplex aus den 90er Jahren, der wie ein groteskes Moderne-Imitat aussieht. Das neue Arbeitsamt.Kurz vor dem offiziellen IBA-Start 2010 läuft die Medien- und PR-Maschine auf Hochtouren: mit Ausstellungen, Präsentationen, Veranstaltungen. Seit 2002, als das Land Sachsen-Anhalt die Ausrichtung einer Bauausstellung beschloss und Mittel dafür freigab, arbeiten die Städte an ihren Projekten und Beiträgen.Dessaus Antwort auf die Schrumpfung ist ein radikales Entwicklungskonzept: Die Stadt, die vor hundert Jahren noch aus verschiedenen Siedlungskernen bestand, soll sich auf lange Sicht wieder in urbane Inseln auflösen. Stabile städtische Kerne sollen gestärkt werden. Wo abgerissen wird, entsteht zwischen den Inseln Landschaft.Abrisse wurden zunächst dort konzentriert, wo schon vieles brach lag: Auf dem Areal zwischen Bahnhof und Südstadt sollte der neue Landschaftszug entstehen. Aber es gab einen Haken. Viele Grundstücke gehörten der Stadt nicht, weil Pleitegrundstücke an Banken gefallen oder leere Gebäude Privateigentum waren.Baudezernent Karl Gröger verhandelte mit Erbengemeinschaften, fuhr zu Banken in Bayern und im Ruhrgebiet, um ihnen klarzumachen, dass ihre leeren Immobilien zwar mit Millionen belastet, aber keinen Cent mehr wert waren. „Alle glaubten ja immer noch, dass sie hier große Werte besitzen.“ Gröger erreichte, dass die Stadt einige Grundstücke zum symbolischen Preis zurückkaufen konnte. Allmählich nahm die neue Landschaft Gestalt an. Die Stadtplanerinnen Heike Brückner und Sonja Beeck vom IBA-Büro entwickelten Projekte wie die „Claims“: Freiflächen von 400 Quadratmetern, die den Bürgern zur öffentlichen Nutzung angeboten werden. So entstanden zum Beispiel ein interkultureller Garten und eine BMX-Anlage. Der Grünzug wurde mit roten Pfeilen und Informationstafeln versehen und zog sich nun bis ins Viertel am Leipziger Tor. Dort fielen etliche leer stehende Wohnblöcke.„Das Konzept ist ein auf 20 bis 30 Jahre angelegter, flexibler Prozess. So langfristige Veränderungen müssen erstmal ausgehalten werden“, sagt Sonja Beeck.Die Zukunft war ins Rollen gekommen. Das Drehbuch schrieb die Ökonomie. Die schrumpfenden Städte standen finanziell mit dem Rücken zur Wand. Steuereinnahmen brachen weg, jede leer stehende Wohnung kostete die städtischen Wohnungsgesellschaften Geld, ungenutzte Infrastruktur fraß Löcher in die Stadtkassen. Die IBA versprach Fördermittel, so wie schon das Abrissprogramm „Stadtumbau Ost“. Kritiker sagen, die Städte hätten die IBA neben Prestigegründen vor allem deshalb ausgerichtet. Sie sei kein demokratisches Projekt, sondern der Region „von oben herab“ verordnet worden. Niemand habe widersprochen, weil die Städte die Finanzierungen brauchten.Die Planer nennen es Top DownIndirekt bestätigt das Gröger: „Ohne die Förderprogramme kann die Stadt den Umbau nicht tragen. Insofern müssen wir reagieren und die Projekte zügig umsetzen.“ „Top down“ nennen das Planer: Von oben nach unten. So wuchs langsam die Entfernung zwischen Planern und Beplanten.Unten, das ist zum Beispiel das Viertel am Leipziger Tor. Manche, vor allem ältere Bewohner, reagierten verstört auf die Abrisse und wilden Wiesen. Sie hörten jetzt viele neue Begriffe: Stadtumbau Ost. IBA. EFRE-Förderprogramm. Stadt aufpixeln. Flächenmanagement. Urbane Kerne. Sukzessionsflächen. Claims. „Zeitlich und räumlich flexibles Entwicklungskonzept“.Am Leipziger Tor hat die Stadt die „Kontaktstelle Stadtumbau“ eingerichtet: als Informations- und Vermittlungsstelle zwischen Bürgern und Verwaltung. Isabel Neumann kam geradewegs vom Studium in dieses Büro und soll nun den Leuten den „Stadtumbau erklären“. Und Bürger beraten, die ein „Claim“ gestalten wollen. Die Nachfrage nach dieser Form des Bürgerengagements hält sich allerdings in Grenzen. „Das hier ist eher ein sozial schwaches Quartier mit vielen Rentnern und Studenten“, sagt sie. Viele sind auf Transferleistungen und billige Mieten angewiesen. Nur ein Drittel der Anwohner ist erwerbsfähig, und davon wiederum ein Teil arbeitslos. Um das Quartier zu stärken, versuche man, Senioreneinrichtungen oder die Suppenküche zu unterstützen und gemeinsame Aktionen zu organisieren. Während die Planer 30 Jahre voraus denken müssen, kämpfen die unten um ihre alltägliche Gegenwart.Die Frage ist, wie die Leute diese langfristigen Veränderungen aushalten. Wenn Nachbarn und Freunde wegziehen, vertraute Gebäude verschwinden.Anwohner wollen oft wissen, ob ihr Haus auch abgerissen werden soll. Sie haben Angst, dass Stadtteile aufgegeben werden. Und wie es weitergehen soll.Die neuen Landschaften sind ja nur eine Hälfte des Konzepts: Auf die Frage, wie man die städtischen Kerne stabilisiert, gibt es bisher wenig konkrete Antworten. Das Problem sehen auch Sonja Beeck und Heike Brückner: Stadtteilarbeit oder die Wiederbelebung öffentlicher Räume seien hier sicher hilfreicher als städtebauliche Projekte. Aber die IBA und das Programm „Stadtumbau Ost“ konzentrieren sich auf Städtebau. Sie geben keine Antworten auf Armut oder Arbeitslosigkeit.Dessau driftet sozial auseinander. Während sich Stadtteile wie das Sanierungsgebiet Dessau-Nord zu einer gutbürgerlichen, beliebten Wohngegend entwickelt, nehmen in anderen Quartieren die Probleme zu. Wie am Leipziger Tor. „Das war schon immer ein Arbeiterviertel mit einer sehr harten Geschichte“, sagt Stadtplaner und Architekt Holger Schmidt. „Jetzt wird hier wieder abgerissen.“ Warum genau hier? Weil hier Gebäude der städtischen Wohnungsbaugesellschaften liegen. Private Eigentümer sind meist nicht zum Abriss bereit.Auch wenn es wohnungswirtschaftlich und planerisch nachvollziehbar sei, sagt Schmidt, blieben diese Abrisse doch ein soziales und psychologisches Problem. „Da kann man allein mit Stadtteilfesten nicht sehr viel ausrichten.“ Schmidt sieht hier konkreteren Handlungsbedarf: eine Freizeiteinrichtung für Kinder und Jugendliche beispielsweise.Holger Schmidt, ehemaliger Mitarbeiter der Stiftung Bauhaus Dessau und Stadtrat für Bündnis 90/Die Grünen, kritisiert, dass die IBA-Präsentation inzwischen die soziale Wirklichkeit dominiere: Offiziell sei nur noch von Pixeln und Claims die Rede, obwohl die Stadt viel komplexere Planungen entwickelt habe. „Man muss sich doch auf die Realitäten einlassen.“ Es sei keine sinnvolle Strategie, sich als Planer auf selbsterschaffene Bilder zu fixieren und anschließend die Stadt dort einpassen zu wollen.Wichtiger als die Claims sind Schmidt die alten Industrietürme, deren Erhalt sie durchsetzen konnten und die nun wie Landmarken in der neuen Landschaft stehen. Doch in den offiziellen IBA-Broschüren tauchen sie kaum auf. Obwohl sie für die Dessauer besonders wichtige Identifikationspunkte sind. Weil sie Vergangenheit und Zukunft zugleich bedeuten. Hierher kommen Ältere, um ihren Kindern und Enkeln zu zeigen, wo sie früher gearbeitet haben. Und von hier aus kann man weit über die sich wandelnde Stadt schauen.Der alte Räucherturm, sagt Schmidt, sei kurz nach Weihnachten voller Menschen gewesen.