Debatte
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Hundert Millionen User schimpfen auf X über eine Dissertation – was steckt dahinter?
Die Dissertation „Olfactory Ethics“ von Ally Louks über die Politik des Geruchs in der Literatur erhitzt die Gemüter. Ganz falsch ist der Vorwurf einer Abgehobenheit in den Geisteswissenschaften nicht
Ally Louks gelang, was den meisten Geisteswissenschaftler:innen, verbunden mit einem Gefühl unermesslicher Kränkung, zeit ihres Lebens verwehrt bleibt: Sie wurde gelesen. Und zwar hundertmillionenfach! Naja, „gelesen“ mag vielleicht etwas unpräzise sein. Sagen wir daher besser: Sie und ihre Arbeit wurden wahrgenommen. Und dies auch noch mit ihrer ersten Monografie, nämlich ihrer Cambridge-Dissertationsschrift „Olfactory Ethics: The Politics of Smell in Modern and Contemporary Prose“ („Olfaktorische Ethik: Die Politik des Geruchs in moderner und zeitgenössischer Prosa“).
Keine auf den ersten Blick leicht verständliche Studie, was letzthin auch die massiven Reaktionen darauf begründen dürfte. Als sie ein Bild von sich
etzthin auch die massiven Reaktionen darauf begründen dürfte. Als sie ein Bild von sich mit ihrer gebundenen Dissertationsschrift am 27. November auf der Plattform X postete, entlud sich dort ein gigantischer Shitstorm. Bis heute wurde ihr Tweet auf X von knapp 121 Millionen Usern angeklickt. Der österreichische Standard brachte den Fall in die Zeitung.Kritik an Elitarismus oder Delegitimierung der VerfasserinNeben persönlichen Anfeindungen wie Schlampe und Blödsinn, die wohl vornehmlich dem Neid des Mobs auf den Doktortitel geschuldet sein dürften, rieben sich viele an der Hermetik und Rätselhaftigkeit des Buchprojekts. Wer braucht schon sowas?, so der allgemeine Tenor. Ein User fragte ostentativ, inwiefern die Problemstellung überhaupt ein wissenschaftliches Feld abdecke. Andere glaubten, es mit einem „Joke“ zu tun zu haben.Dass sich die Arbeit, was in der Natur der Sache von Forschungsprojekten liegt, an einen akademischen Fachkreis richtet, wie einige Verteidiger:innen Louks‘ betonten, trug nur noch zur weiteren Erhitzung der Gemüter bei. Schon war eine Diskussion über Ungleichheit und Elitarismus entbrannt. Zahlreiche Hass-Schreiber verfolgten ausschließlich die Delegitimierung der Verfasserin. Dass sich ihr Text im Kern mit Formen der Abwertungen durch Gerüche befasst, dass er in literarischen Entwürfen von Vladimir Nabokovs Lolita oder Toni Morrisons Tar Baby misogyne bzw. rassistische Strukturen offenlegt, steigert die Tragik der ganzen Causa auf ironische Weise. Während Louks Fokus sich somit gerade gegen Diskriminierung wendet, wird sie im selben Atemzug Opfer derselben.Geisteswissenschaften in der Krise: Aus der Öffentlichkeit, aus dem SinnGewiss kann man die ganze Aufregung, Empörung und Gegen-Empörung wieder einmal als ein digitales Strohfeuer ansehen, wie es sich fast alltäglich und zu allen möglichen wichtigeren oder weniger wichtigeren Themen ereignet. Und gewiss wäre dies auch eine gute Option, um insbesondere nicht der pöbelnden Meute erneut Aufmerksamkeit zu schenken, die sie eigentlich nicht verdient. Gleichwohl deutet sich hinter dem Geschwätz eine tiefer liegende Dimension der Debatte an: Wie kommt es überhaupt zu einer massenhaften Herabsetzung einer letztlich sehr typischen Forschungsfrage der Geisteswissenschaften?Sucht man die Ursache nicht ausschließlich aufseiten der Nutzer:innen des sozialen Netzwerks, so dürfte der schräge Blick auf Literaturwissenschaft, Theologie oder Philosophie auch ein Stück weit auf die Krise innerhalb dieser Disziplinen selbst hinweisen. Anders als die Natur- und Technikwissenschaften haben sich die Humanities in den vergangenen Dekaden weitestgehend aus der Öffentlichkeit verabschiedet. In der akademischen Philosophie begnügen sich viele nur noch mit der Analytik kanonischer Denker:innen und ihrer Schriften, statt die virulenten Diskurse intellektuell zu flankieren oder voranzutreiben. Ähnliches gilt für zahlreiche Philolog:innen, deren Wirken sich auf Nischenthemen und – zugespitzt gesagt – Denkmalpflege von Goethe, Schiller und Lessing beschränkt.Warum Steuergelder eine olfaktorische Ethik finanzieren solltenMan hat es nicht nur versäumt, der Öffentlichkeit den Wert der eigenen Methodik und Perspektiven transparent zu vermitteln, sondern bisweilen einen regelrechten Dünkel entwickelt. Wer sich für das Feuilleton „herablässt“, so die Einstellung nicht weniger Hochschullehrer:innen, könne keine echte Wissenschaft betreiben – eine Haltung, die sich inzwischen übel rächt. In Neuseeland will die Politik beispielsweise sämtliche Gelder für die Grundlagenforschung in den Geisteswissenschaften streichen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis in einem zunehmend von Rechtspopulist:innen bestimmten Klima in der EU auch hier Forderungen nach drastischen Mittelkürzungen aufkommen. Die Kultur hat es ja schon erwischt. Jene, die sie beobachten und einordnen, dürften logischerweise dann bald darauf folgen.Dabei täte es Not, sich ein neues Profil zu geben. Insbesondere würde sich eine Ausrichtung hin zu einer Gegenwartswissenschaft (durchaus mit geschichtspflegerischem Impetus, der sich um die Wahrung des klassischen Kanons müht) als sinnvoll erweisen. Ein gutes Beispiel dafür sind die Politikwissenschaften.Jenseits der reinen Forschung hat sie sich als politische und soziale Prozesse profund kommentierende Disziplin Renommee verschafft. Sie wird gehört, gesehen und aufgrund einer klaren Sprache verstanden. Dadurch stößt sie auch auf eine Akzeptanz in weiten Teilen der Bevölkerung. Unwichtig ist das nicht. Denn Wissenschaften werden noch immer von den Steuerzahler:innen finanziert. Sollten die also auch für Arbeiten zur olfaktorischen Ethik bereit sein? In jedem Fall. Nur warum sie dies tun, sollten sie auch verstehen können.