Wie alle Welt weiß, sind es zwei Fragen, um die es in der neuen Welle von Diskussionen über den Umgang mit den MfS-Akten geht: Ob die im StaSi-Unterlagen-Gesetz geregelte Kompetenz parlamentarischer Untersuchungsausschüsse, MfS-Akten für ihre Zwecke zu nutzen, irgendwelchen Einschränkungen unterliegt; zweitens, ob illegal erstellte Abhörprotokolle in dieser Hinsicht eine solche Einschränkung beziehungsweise einen Nutzungsausschluss begründen.
Zur ersten Frage ist festzustellen, dass ihre Erörterung offenkundig weitgehend auf der Fehleinschätzung Kohls und seiner Anwälte beruht, die Behörde des Bundesbeauftragten habe irgendeinen Ermessensspielraum dergestalt, dass sie über Auslieferung oder Nichtauslieferung von MfS-Akten ents
Akten entscheiden könne. Ein Blick in den Text von §22 StaSi-Unterlagen-Gesetz genügt, um klarzustellen, dass dem so nicht ist.Wenn der Untersuchungsausschuss die genannten Akten anfordert, ist die Behörde laut Gesetz verpflichtet, sie auszuliefern. Im Unterschied zu den Regelungen für Aktennutzungen durch öffentliche Stellen oder in Strafverfahren enthält der zitierte Paragraph keinerlei Spezifizierungen, sondern ist eine generelle Verpflichtungsnorm, gegen die weder das Grundgesetz noch § 5 des StaSi-Unterlagen-Gesetzes ins Feld geführt werden können. Der Untersuchungsausschussparagraph beruft sich ausdrücklich auf Artikel 44 des Grundgesetzes. Absatz 2 des § 5 schränkt das Verbot, MfS-Akten zum Schaden Betroffener zu nutzen, gerade für den Fall ein, um den es sich beim Parlamentarischen Untersuchungssausschuss handelt, nämlich die Durchführung eines Strafverfahrens. Auch wenn die parlamentarische Untersuchung sich vom eigentlichen Strafverfahren unterscheidet, gilt für sie doch, wie allgemein bekannt, die Strafprozessordnung.Damit wird die zweite Frage angesprochen: Können illegal, nämlich durch staatlich autorisierte Spionage erstellte Untersuchungsverfahren Verwendung finden? Hier existiert in der Tat ein Ermessensspielraum. Aber der liegt beim Untersuchungsausschuss. Wenn Kohl und Generalsekretärin Merkel bei Gauck intervenieren, sind sie also bei der völlig verkehrten Adresse. Natürlich wissen sie, dass sie den Untersuchungsausschuss nicht zu beeinflussen versuchen dürfen. Aber genau so wenig ist es legitim, Joachim Gauck durch öffentlichen Druck zu einem gesetzwidrigen Handeln veranlassen zu wollen.Was die Beurteilung der Telefonabhörung durch staatliche Spionagedienste anbelangt, so ist zweierlei zu bemerken. Natürlich handelt es sich in jedem Fall um einen Eingriff in das von Verfassung wegen geschützte Post- und Fernmeldegeheimnis. Auch nach dem Recht der DDR-Verfassung ( Artikel 31, Absatz 1 DDR-Verfassung 1968/74)! Andererseits aber hält selbst das StaSi-Unterlagen-Gesetz die Spionage laut §25 für eine normale staatliche Aktivität, und selbst jemand, der wie Wolfgang Schäuble durchaus zu unterschieden weiß zwischen einem Nachrichtendienst, der parlamentarischer Kontrolle unterliegt, und einem, der - wie das MfS - alle Kontrolle unter eigener Regie ausübt, war bereit anzuerkennen, dass Spionage ihrer Natur nach in einer Grauzone am Rande oder außerhalb der Legalität stattfindet. Und gilt das nicht erst recht unter heutigen Bedingungen, da auch demokratische Staaten die technischen Mittel ihrer Nachrichtendienste ungeniert für die Industriespionage nutzen, wie der Fall Echelon zeigt?Dennoch hat der Untersuchungsausschuss recht getan, wenn er sich seinen Ermessensspielraum offengehalten und die Protokolle bisher nicht angefordert hat, um seine Tätigkeit nicht durch gerichtliche Auseinandersetzungen zu behindern. Die Verteidiger Kohls und seiner Mittelsleute sollten freilich nicht aus den Augen verlieren, dass ihre Blockade- und Verschweigungstaktik den Spielraum des Ausschusses derart einengen könnte, dass er gezwungen wäre, schließlich auf die Protokolle als Beweismittel zurückzugreifen.Angesichts dieser völlig klaren Sachverhalte versucht nun der aus vielen Gründen berühmte Ex-Innenminister Diestel einen spektakulären Auftritt dadurch für sich zu organisieren, dass er das ach so komplizierte Opfer-Täter-Verhältnis auf die Tagesordnung setzt, man darf sich darüber wundern. Denn auch hier ist das meiste klar. Zum Beispiel, dass er selbst sehr viel, wenn nicht alles daran setzte, Täter zu werden, indem er wie in Rostock so auch in der letzten DDR-Volkskammer die Überprüfung der Abgeordneten auf MfS-Mitarbeit zu verhindern suchte.In der Öffentlichkeit sind diese Dinge längst ebenso vergessen wie der tüchtige Hauptmann Terpe, Diestels Kronzeuge. Aber da Diestel die Dinge gern aktualisieren möchte, so sei ihm hier der Gefallen getan, dass ein damaliges Mitglied des Volkskammerpräsidiums daran erinnert: Es bedurfte der Berufung der Abgeordneten Hildebrandt und Gauck, um die Obstruktionsversuche des damaligen Innenministers zu beenden. Das erklärt natürlich, warum er jetzt die Gelegenheit gekommen wähnt, seinem Intimfeind Gauck alte Rechnungen zu präsentieren.Die Art und Weise, wie er das tut, wirft freilich sehr merkwürdige Lichter auf den Juristen. Ich habe schon gezeigt, die Opfer-Täter-Frage spielt in der ganzen Auseinandersetzung schlechthin keine Rolle, - es sei denn in den Expektorationen von Herrn Diestel. Dass Herr Kohl Opfer der Abhörungen geworden ist, ist noch von keinem Menschen bestritten worden, und dementsprechend wird ihm auch das über ihn gesammelte Material von der Behörde ausgeliefert werden, wie das Gesetz es vorschreibt.Aber die Frage, ob Herr Gauck Opfer oder Täter sei? Wen interessiert das außer Herrn Diestel? Der begründet es damit, er, Gauck, den er großzügig, wie er ist, mit der Bundesbehörde identifiziert, befinde darüber, wer Opfer und wer Täter sei. Von wannen kommt ihm diese Wissenschaft?Er beruft sich auf § 6 des StaSi-Unterlagen-Gesetzes. Aber in dem Text dieses Paragraphen werden nicht Opfer und Täter, sondern - und dies, wie der Fall Diestel zeigt, aus guten juristischen Gründen! - Betroffene, Mitarbeiter, Begünstigte und Dritte unterschieden. Es würde den Rahmen eines Artikels bei weitem sprengen, wenn ich jetzt im Einzelnen nachweisen wollte, dass keine der Kategorien dieses Paragraphen auf Gauck zutrifft oder je zugetroffen haben sollte.Aber ein so detaillierter Nachweis erübrigt sich auch angesichts dessen, was Diestel aus dem Dossier Terpe vorbringt. Es belegt - und dies unmissverständlich ! - folgende Fakten: Gauck hat sich an die in der Landeskirche Mecklenburg geltende Regelung gehalten, Gespräche mit dem MfS der Kirchenleitung mitzuteilen und damit jede Konspiration zu unterbinden. Wenn Diestel das bestreiten will, trägt er dafür die Beweislast, nicht etwa Gauck.Des Weitern gehen aus dem Dossier Terpe folgende Fakten hervor: Gegen Gauck war der "Operative Vorgang ÂLarveÂ" angelegt, womit das MfS ihn als zu beobachtenden Gegner ("Betroffener" im Sinne von § 6, siehe oben) kennzeichnete.Gegen Gauck war, im Widerspruch zum DDR-Recht, das Besuche von Verwandten 1. Grades zuließ und regelte, ein Einreiseverbot für seine Kinder erlassen worden. Die Aufhebung des "Operativen Vorgangs" (OV) wie des Einreiseverbotes geschahen offenkundig in der vagen Hoffnung Terpes, Gauck für eine spätere IM-Tätigkeit zu gewinnen. Dass sie vergeblich bleiben musste, erklärt sich aus Gaucks Verweigerung der Konspiration. Damit ergibt sich als weiteres Faktum: Gauck war nie IM und konnte es nicht werden.Was nun die Bewertung der Fakten anbelangt, so muss man sagen: Diestel offenbart mit der ihm eigenen Ungeniertheit seine völlige Unkenntnis kirchlicher Usancen wie des Milieus der DDR-Opposition.Was die ersteren anbetrifft: Als Pfarrer wie als Hochschullehrer habe ich mich besuchende MfS-Mitarbeiter natürlich in meiner Wohnung empfangen, was schon deswegen unvermeidlich war, weil diese Herren meist unangemeldet erschienen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass ich die höflich vorgebrachte Frage, ob man mich wieder besuchen dürfe, wie Gauck genau so höflich bejaht habe, was freilich nicht hinderte, dass ich vom MfS als "Feind der gesellschaftlichen Entwicklung" eingestuft wurde. Woraus man ersehen kann, es war nicht nötig, die Leute vom MfS mit Schimpfworten und Rausschmissen zu traktieren, um sich als "richtiger" Oppositioneller zu qualifizieren, wie sich Herr Diestel die Sache wahrscheinlich vorstellt.Was die als besonders belastend vorgebrachte Meinung anbelangt, Gauck habe die DDR stabilisieren wollen, so kann ich nur sagen: Sancta simplicitas! Natürlich wollten wir das! Eben deswegen attackierten wir eine Parteityrannei, die alles zur Destabilisierung der Wirtschaft, der Umwelt und einer Bevölkerung tat, die ihr Heil schließlich nur noch in der Flucht sehen konnte. Dies freilich im Gegensatz zu einer Opposition, deren Anschauungen Gauck auch im Gespräch mit Terpe wiedergibt.Dieses Gespräch ist übrigens ein instruktives Beispiel für die im Sommer 1988 schon weit fortgeschrittene Verunsicherung der SED. Nach der Veröffentlichung des SED/SPD-Papiers, den Auswirkungen des konziliaren Prozesses, mit den die desolate Situation offenlegenden "Zeugnissen der Betroffenheit" in der Dresdner Christuskirche im Februar 1988 griff die SED selbst zu solchen Strohhalmen wie dem Versuch, durch leicht zu durchschauende Gunsterweise jemanden wie Gauck für eine spätere IM-Tätigkeit zu gewinnen. Ein ebenso lächerliches Unterfangen wie Diestels Versuch, aus dieser Geste der Hilflosigkeit post festum eine Diffamierungskampagne gegen Gauck zu starten.Zwei Teilerfolge freilich muss man ihm einräumen: Er hat mit seinen Anrempeleien bei der Redaktion der Welt ein solches Interesse gefunden, dass sie gegen allen journalistischen Anstand seinen Text aus dem Freitag fast wortgetreu nachdruckten - allerdings ohne Quellenangabe.Der andere betrifft leider die Freitag-Redaktion selbst. Diestels Gallimathias hat sie so verwirrt, dass sie einen IM nicht mehr von einem OV unterscheiden konnte und behauptete, Gauck sei IM "Larve" gewesen. Gauck somit sein eigener Gegner, sein eigener "Spion". So etwas ist nicht einmal dem MfS passiert!Aber zurück zum traurigen Ernst. Was hat Diestels zweiter Anlauf zur Beteiligung an der Aktendebatte gebracht? Was die relevanten und allerseits diskutierten Rechtsfragen anbelangt, rein gar nichts. Er hat sie schlicht übersehen.Und was seine Anwürfe gegen Gauck anbelangt - da ist ihm etwas beinahe Einzigartiges gelungen. Denn gewiss kommt es ganz selten vor, dass ein Anwalt, der anklagen will, aus Versehen eine Verteidigungsrede hält, die alle Argumente dafür ins hellste Licht setzt, die seine Anwürfe so entkräften, wie es in Diestels Anti-Gauck-Tiraden geschieht. Kann man eine solche Fehlleistung noch Freudsche nennen?Dass mag dahingestellt bleiben. Sicher aber ist: Zu erwarten, dass Joachim Gauck auf die von Diestel inszenierte Selbstblamage anders als mit Kopfschütteln reagiert, das hieße noch einmal statt auf die Pauke ins Abwaschwasser hauen. Mit derlei lächerlichen Pannen sollte der Bundesbeauftragte sich zu befassen Zeit haben? Sehen Sie es je bälder je besser ein, lieber Herr Diestel, die versuchte Provokation ist gründlich schiefgegangen.