Ein Internet ohne Sex-Bilder ist eine Utopie, die heute ebenso realistisch erscheint wie die Forderung nach Schlössern auf dem Mond: Sie ist vorstellbar, aber die Kosten wären verdammt hoch. Der Preis für ein „sauberes Netz“ wären zumindest gewaltige Kontrollinstanzen, die auch andere Inhalte zensieren könnten. Jede Änderung der gesetzlichen Regeln zum Jugendschutz in den neuen Medien ist deshalb ein Balance-Akt. Wer Kinder wirksamer vor Schmuddelseiten abschirmt, muss fast immer in Kauf nehmen, dass er auch die übrigen Netznutzer einschränkt.
Umso ärgerlicher, wenn neue Regeln sowohl die Freiheit im Internet als auch den Jugendschutz zugleich zu schmälern drohen. Diese Gefahr geht derzeit von der Neufassung des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags aus, der bis Ende Dezember von allen Bundesländern verabschiedet sein soll. Der Vertrag sieht vor, das von Januar 2011 an alle Webseiten auf deutschen Servern mit elektronischen Plaketten zur Altersbeschränkung versehen werden sollen. Hersteller von Filtersoftware, so die Idee, könnten dann Porno-Portale und andere jugendgefährdende Inhalte effektiver blockieren. Die Kennzeichnung sollen die Betreiber der Seiten zunächst selbst vornehmen.
Für viele Erotikangebote aus Deutschland würde sich die Zutrittsschwelle damit im Vergleich zu heute allerdings eher senken als erhöhen. Altersbeschränkte Erotik-Angebote „können heute nur nach einer (aufwendigen und von den Kunden kaum akzeptierten) Altersverifikation oder zwischen 23 und 4Uhr Nachts abgerufen werden“, heißt es in einem bisher unveröffentlichten Brief des Datenschutzaktivisten Alvar Freude an die Mitglieder des Medienauschusses des nordrhein-westfälischen Landtags, der dem Freitag vorliegt. Der neue Vertrag erlaube es den Anbietern hingegen, zumindest softpornografische Filme auch tagsüber anzubieten. „Es ist den Inhaltsanbietern damit gestattet vom Nacht- ins Tagesprogramm zu wechseln.“
Profitieren würde davon zum Beispiel die Deutsche Telekom, die etwa das Portal erotic-lounge.com betreibt. So sei es auch wenig verwunderlich, dass sich die Telekom-Jugendschutzbeauftragte Gabriele Schmeichel, die zugleich Vorsitzende der "Freiwilligen Selbstkontrolle Multimedia-Diensteanbieter" ist, im Landtag vehement für den neuen Staatsvertrag eingesetzt habe.
Die Kritiker fürchten, dass vor allem private Betreiber von Plattformen, in denen andere Nutzer Inhalte einfügen können – also Web 2.0-Projekte –, Probleme mit dem Staatsanwalt bekommen könnten. Schließlich könne kein Betreiber garantieren, dass sich immer alle Nutzer an die einmal vergebene Jugendschutz-Klassifikation hielten. Damit aber drohe vielen von Einzelpersonen betriebenen Blogs und innovativen Seiten das Aus.
Freudes Brief ist Teil einer Kampagne von Internetaktivisten, die vor allem von netzpolitisch aktiven Sozialdemokraten aus Berlin unterstützt wird. Schon in der vergangenen Woche hatten 50 Unterzeichner in einem offenen Brief die SPD-Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen aufgefordert, gegen die Novelle zu stimmen. Die Linke hat Ihre Ablehnung schon signalisiert. Die Berliner Sozialdemokraten hoffen, jetzt auch Teile der rot-grünen Minderheitskoalition im Land gegen die Neuregelung aufzubringen. Sollte nur ein Bundesland dem Staatsvertrag nicht zustimmen, müsste nachverhandelt werden.