Wegen steigender Mieten und wachsender Armut verlieren immer mehr Menschen ihr Zuhause. Auch osteuropäische Arbeitssuchende stranden auf der Straße. Nun kommt der Winter
Man sieht sofort, dass Paul* sich nicht wohlfühlt. Wie er da mit seinem Teebecher auf der Bierbank sitzt und die Obdachlosen beobachtet, die in der Notübernachtung am Berliner Hauptbahnhof um einen Teller Suppe anstehen. Paul ist zum ersten Mal hier. Heute Morgen haben Gerichtsvollzieher und Hausverwaltung den 60-Jährigen aus seiner Wohnung geworfen. „Mietschulden“, sagt er leise. Jetzt weiß er nicht wohin. „Ich kann doch nicht auf die Straße.“ Der hagere Mann wischt sich mit der Hand über die Augen. „Ich könnte heulen.“
Mit Beginn der kalten Jahreszeit wird die schwierige Lage obdach- und wohnungsloser Menschen in diesen Tagen noch prekärer. Und erstmals seit längerer Zeit steigt ihre Zahl wieder spürbar.
#252;rbar. Nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hatten 2010 etwa 248.000 Menschen kein eigenes Zuhause – zwei Jahre zuvor waren es noch 227.000. Für 2015 erwartet die BAGW sogar bis zu 280.000 Wohnungslose. Schon heute seien weitere 106.000 Menschen vom Verlust ihrer Wohnung bedroht. Die Zahl der Obdachlosen – also der Menschen, die buchstäblich auf der Straße leben – wuchs laut BAGW seit 2008 um zehn Prozent auf 22.000.In dieser erschwerten Situation haben Anfang November in vielen Städten Notprogramme für Obdachlose begonnen. Sie sollen verhindern, dass Menschen sterben – so wie im Winter von 2009 auf 2010, als in Deutschland 16 Obdachlose auf der Straße erfroren. In Berlin wird die „Kältehilfe“ von einem Träger-Netzwerk organisiert und von der diakonischen Gewebo gebündelt. Insgesamt 16 Notübernachtungen und 13 nur tageweise geöffnete Nachtcafés bieten rund 400 Notschlafplätze. Bei Temperaturen unter drei Grad minus werden nachts zusätzlich U-Bahnhöfe geöffnet.Schlafen im BunkerNicht nur in Berlin ist umstritten, ob diese Hilfsangebote ausreichend und zumutbar sind. In Hamburg gab es vergangenes Jahr heftige Debatten, als der schwarz-grüne Senat bei Anbruch des Winters einen unterirdischen Weltkriegsbunker als „Erfrierungsschutz“ öffnete. Nach Zeitungsberichten über unzumutbare sanitäre Anlagen und die Enge mit bis zu 40 Männern in einem Raum wurde die umstrittene Einrichtung geschlossen und durch ein Wohnheim mit besserem Standard ersetzt. Inzwischen hat der neue SPD-Senat zudem ein Bürogebäude zur zentralen Notschlafstelle mit 160 regulären Plätzen umbauen lassen, weitere 80 Plätze gibt es in Wohncontainern. Doch ist oft noch nicht einmal klar, wie viele Plätze genau gebraucht werden. Denn eine bundesweite Statistik zur Wohnungslosigkeit gibt es nicht, obwohl Experten sie seit Jahrzehnten fordern. „Man will offenbar diese Zahlen nicht, weil sie natürlich eine gewisse Brisanz haben“, sagt BAGW-Geschäftsführer Thomas Specht. Bundessozialministerium und Statistisches Bundesamt argumentieren, Wohnungs- und Obdachlose seien schwer zu zählen. Dass es keine Daten gebe, sei ein technisches Problem, kein politisches. Specht widerspricht: „England und Irland schaffen es schließlich auch, ihre Wohnungslosen zu zählen.“ Einige Bundesländer haben ebenfalls vorgemacht, dass es geht. 2009 wurden in Hamburg eine Woche lang Betroffene befragt, vor allem in Hilfseinrichtungen. Damals lebten dort 1.029 Menschen auf der Straße.Für den derzeitigen Anstieg der Wohnungslosigkeit sieht die BAGW drei Hauptgründe: Zu steigenden Mieten in den Ballungsräumen komme Verarmung durch Langzeitarbeitslosigkeit und Billigjobs. Außerdem seien wegen zunehmender Sanktionen gerade junge Hartz-IV-Empfänger vom Verlust ihrer Wohnung bedroht. „Durch die angespannte Haushaltslage vieler Kommunen passiert auch im sozialen Wohnungsbau nichts mehr“, kritisiert Specht. Für diesen Winter fordert die BAGW zumindest mehr Notschlafstellen, um der gestiegenen Zahl von Hilfsbedürftigen gerecht zu werden. Außerdem wirbt die Arbeitsgemeinschaft für bessere Standards und ein Minimum an Privatsphäre in den Unterkünften.Auf Arbeitssuche gestrandetIn der Notübernachtung am Berliner Hauptbahnhof inspiziert Svetlana Krasovski noch einmal die Schlafräume. Die 29-Jährige managt gemeinsam mit ehrenamtlichen Helfern die Übernachtungsstelle der Berliner Stadtmission. Insgesamt hat die Einrichtung knapp 70 Betten – wobei „Bett“ hier eine bezogene Isomatte bedeutet, in einem Raum mit 15 anderen Menschen. Auch wenn alle Betten belegt sind, werden weitere Hilfesuchende aufgenommen. „Wir hatten Anfang November schon mal 180 Leute hier“, sagt Krasovski und lächelt ein wenig hilflos. „Die müssen dann im Aufenthaltsraum auf ihrer Jacke schlafen.“ Die steigende Not auf der Straße ist also spürbar. Auch in Hamburg mussten die Betten in der zentralen Notschlafstelle wegen des großen Bedarfs schon kurz nach der Eröffnung auf über 200 aufgestockt werden.Krasovski bereitet vor allem die zunehmende Zahl von osteuropäischen Obdachlosen Kopfzerbrechen. „Mindestens 60 Prozent unserer Gäste kommen aus Polen, Bulgarien und dem Baltikum, die meisten von ihnen suchen hier Arbeit.“ Auch diese Entwicklung ist nicht auf Berlin beschränkt: Seit Mai steht der deutsche Arbeitsmarkt allen Bürgern aus den östlichen EU-Staaten offen. Seitdem stranden auf den Straßen vieler Städte Menschen, die bei der Arbeitssuche gescheitert sind.In Hamburg kümmert sich inzwischen ein polnischer Straßensozialarbeiter speziell um die osteuropäischen Obdachlosen. Bei Bedarf hilft er ihnen auch, in ihre Heimat zurückzukehren. Solche Angebote – Streetworker und Einzelfallhilfe – gebe es in Berlin viel zu wenig, findet Krasovski. „Viele wollen von der Straße weg“, weiß die junge Frau. „Doch den Neubeginn zu organisieren, fehlt ihnen einfach die Kraft.“