„Trauma Treuhand“

Begleitbuch Das Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung erzählt einzelne Geschichten der Menschen, die 1990 die Treuhandpolitik wie einen Schicksalsschlag erlitten haben. Ein Einblick in das Leben der ostdeutschen Bevölkerung nach dem Mauerfall
„Trauma Treuhand“

Foto: Matthias Eckert

Wenn die Seele «Stopp!» ruft

Angela Thomas, Jahrgang 1965, absolvierte von 1981 bis 1983 eine Ausbildung zur Elektronikfacharbeiterin für Vakuumelektronische Erzeugnisse im Berliner VEB Werk für Fernsehelektronik (WF) an den Standorten Nalepastraße und Treptow. Nachdem sie die Ausbildung abgeschlossen hatte, arbeitete sie im WF in verschiedenen Bereichen, zuletzt in der Endfertigung Farbbildröhre. 1993 wurde der Werkteil Farbbildröhre von Samsung SDI übernommen. 2005 wurden alle Mitarbeiter*innen entlassen und der Betrieb geschlossen. Heute engagiert sich Angela Thomas ehrenamtlich im Industriesalon und in der Nähwerkstatt «Kinderkram» in Adlershof.

Nach meiner Ausbildung im VEB Fernsehelektronik Oberschöneweide trat ich eine Stelle an, in der ich Systeme montierte. Dazu gehörten Ziffernanzeigeröhren und Stabilisatorröhren verschiedenster Art. Dann wurde ich zur sozialistischen Hilfe in die Abteilung Senderöhre verschickt. Dies bedeutete: In unserer Abteilung waren mehr Kollegen beschäftigt, als benötigt; in der Senderöhre wurden Leute gebraucht. Durch die sozialistische Hilfe konnten Engpässe ausgeglichen werden. Dort stellte ich Keramikisolierteile für Senderöhren und Kameraaufnahmeröhren (Endikons) her. Ich arbeitete an einer Spritzmaschine und spritzte Keramikmasse in Formen. Am Donnerstag, dem 17.September 1990, drohte unser Abteilungsleiter: «Ab Montag gehen Sie in Kurzarbeit null!» Zwei Stunden später hörte ich im Betriebsfunk, dass Mitarbeiter für die Abteilung Farbbildröhre gesucht wurden. Die Arbeit dort wurde zu DDR-Zeiten von Vertragsarbeitern aus Mosambik erledigt, die nun in ihr Heimatland zurückgeschickt wurden. Ich überlegte nicht lange und sagte meinem Chef: «Ich werde mich dort bewerben!» Ich hatte Glück und bekam den Job. Nach zwei Jahren, 1993, übernahm Samsung die Firma und versprach uns einen sicheren Arbeitsplatz für zehn Jahre. Sie sagten, wir wären eine große Familie. Wir atmeten erleichtert auf. Wir glaubten ihnen. Doch schon bald stellte sich heraus, dass sie etwas anderes unter «Familie» verstanden als wir. Eine Familie hält in schweren Zeiten zusammen. Doch Samsung forderte Höchstleistungen und ließ keine Schwäche zu. Wir absolvierten regelmäßig Schulungen, in denen uns beigebracht wurde, noch effizienter zu arbeiten. Die Stückzahlen, die täglich vom Band laufen mussten, wurden verdreifacht. Wer da nicht mithalten konnte, wurde aussortiert. Als wir uns einmal während der Arbeit unterhielten, bemerkte der Chef höhnisch: «Wenn ihr noch quatschen könnt, kann ich ja die Drehzahl noch ein bisschen erhöhen.» Wenn jemand einen schlechten Tag hatte, versuchten wir Kollegen mehr zu arbeiten, um seine Leistung auszugleichen. Wir halfen einander. Ich ließ mir dabei nie anmerken, dass ich seit meiner Kindheit an Epilepsie litt, die mich stark einschränkte. Ich war nicht so belastbar, wie es den Anschein machte. Zudem hatten wir in der DDR nicht gelernt, auf uns aufzupassen. Das war nicht nötig gewesen. Doch dies wurde mir nun zum Verhängnis.

Oft überschritt ich meine Schmerzgrenze. 2005 erfuhren wir, dass unser Betriebsteil aufgelöst werden sollte. Der Betriebsrat rief zum Streik auf. Zu Samsung gehörte ein weiteres Bildröhrenwerk in Ungarn. Dieses wurde nicht geschlossen und lief noch bis 2008 weiter. Warum also wir? Wir waren bereit zu kämpfen: für den Sozialplan und um unsere Arbeitsplätze. Ich streikte mit, erbrachte aber weiterhin meine Leistung auf der Arbeit. So war ich erzogen worden. Mein Vater sagte mir oft: «Du bist ein Teil der Volkswirtschaft der DDR und musst dich für sie einsetzten.» Nur gab es die DDR nicht mehr, doch ich hatte sie weiterhin im Kopf. Ich erledigte meine Arbeit gewissenhaft und wollte niemanden sabotieren. Einige brachte das sehr auf. Einmal stritt ich mich lautstark mit einem Kollegen. Bei ihm gingen die Nerven durch und er schlug mir ins Gesicht. Ich erlitt einen Nasenbeinbruch. Der Arbeitskampf war in vollem Gange und es geschahen schreckliche Dinge. Eines Tages lief der Präsident von Samsung Oberschöneweide – «Mister President» – bei seiner üblichen Kontrolle durch unsere Abteilung. Als unser «Mister President» sah, dass eine der Maschinen nicht lief, regte er sich furchtbar auf. Er dachte, der Streik sei der Grund dafür. Jedoch war ein Kollege gerade dabei, die Maschine einzurichten und hatte sie deshalb gestoppt. Ohne jemanden zu fragen, stellte der Präsident die Maschine wieder an. Der Kopf meines Kollegen wurde zerquetscht. Er starb sofort. Der «Mister President» nahm den nächsten Flieger nach Korea und kehrte nie wieder zurück. Hier wäre er wohl verhaftet worden. Die Belegschaft war erschüttert. Wir hatten alle Angst, dass so etwas wieder passieren würde. Es hätte auch mich treffen können, denn ich richtete ebenfalls die Maschinen ein. Die Ereignisse gaben mir zu denken. Ich wollte mich nach einer neuen Stelle umsehen, doch ich war so mitgenommen, dass es mir unmöglich wurde, etwas Neues zu suchen. Meine Seele rief «Stopp!» Es war genug. Ich konnte nicht mehr. Zwei Tage vor Silvester 2005 erhielt ich meine Kündigung – per Kurier, nachts um 2 Uhr. Jegliche Kommunikation der Geschäftsführung mit den Streikenden lief über Kuriere, die nachts zu uns kamen. Wie sich Samsung uns gegenüber verhalten hatte, führte bei vielen Mitarbeitern zum Zusammenbruch. Jeden Tag hatten wir bis zum Umfallen geschuftet, nur um am Ende abgestellt und alleingelassen zu werden. Einige meiner Kollegen verkrafteten das nicht und setzten ihrem Leben ein Ende. Ich merkte schnell, dass es in diesem Staat keinen Platz für Menschen gibt, die keine Höchstleistungen erbringen. Für Menschen, die gerade eine schwere Zeit durchmachen und einfach etwas Unterstützung brauchen. Es gibt zwar ein paar Auffangbecken, aber in keinem davon fühlt man sich als Mensch wertgeschätzt. Anfangs versuchte ich, die Geschehnisse der letzten Jahre allein zu verarbeiten. Dann holte ich mir in St. Clemens Hilfe – einem katholischen Anbetungszentrum, dessen Priester und Mitarbeiter sich um die Heilung seelischer Verletzungen kümmern. Ich sagte mir: «Du musst das überwinden.» Erst seit wenigen Monaten ist es mir möglich, offen über meine Vergangenheit und all die schrecklichen Erlebnisse zu reden.

– aus dem Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung

24.06.2024, 21:34

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