In Kooperation mit Blessing Verlag

„Zusteigen, bitte!“

Stephan Abarbanell spricht über die Hintergründe seines neuen Romans, der Geschichte Walter Rathenaus, eines facettenreichen Mannes, der wie kaum ein anderer ein Kind seiner Zeit war und dessen Geschichte trotzdem nicht an Aktualität verloren hat

Um 1920: Der Potsdamer Platz in Berlin.
Um 1920: Der Potsdamer Platz in Berlin.

Foto: General Photographic Agency/Hulton Archive/Getty Images

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10 Uhr 50, Grunewald

10 Uhr 50, Grunewald

Stephan Abarbanell

256 Seiten

Hardcover: 22,- €

eBook: 15,99 € [EPUB]

In Kooperation mit Blessing Verlag

10 Uhr 50, Grunewald

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, einen Roman über Walther Rathenau schreiben?

Am Ende ist Walther Rathenau wohl zu mir gekommen. In einem früheren Romankonzept war er noch eine Nebenfigur. Je mehr ich daran zu arbeiten begann, desto mehr schob sich Rathenau – hier ganz er selbst – in die Mitte. Er wollte gesehen werden und ich habe ihn erkannt. Dann hat er mich nicht mehr losgelassen. Auch für mich war er einer der großen bekannten Unbekannten. Als junger Mann bin ich in Hamburgs Norden auf dem Weg in die Schule immer wieder die Rathenaustraße entlang gefahren, ohne mich zu fragen, warum diese Straße so hieß. Jetzt stand dieser Große plötzlich vor mir und sagte: Ich bin immer noch da.

Was ist für Sie besonders faszinierend an der Figur Walther Rathenau?

Er ist ganz Kind seiner Zeit und er ist ganz heute. Im Kaiserreich geboren, hat er dort den Großteil seines Lebens verbracht, und war am Ende überzeugter Republikaner. Er hat den Kaiser, den er immer wieder getroffen hat, geehrt und doch verachtet. Er hat in seinen Schriften die Zeit, den großen wirtschaftlichen und sozialen Aufbruch der Jahrhundertwende, den Krieg und die Folgen, die er nicht nur für Deutschland hatte, öffentlich und ohne jeden Vorbehalt kritisiert. Zugleich ist er, darin ganz Zeitgenosse, ein Mann der wechselnden, oft kaum greifbaren Identitäten. Vielleicht war die Suche nach der Identität seine eigentliche Identität. Eine Lebensaufgabe bis zu seinem Ende. Ihn dabei zu beobachten, ist für einen Schriftsteller faszinierend, zumal sie auch auf unsere Zeit verweist, deren Vielzahl an möglichen Lebensentwürfen zu einem Dilemma werden kann.

Was war Walther Rathenau für ein Mensch und wie hat seine Ermordung die deutsche Geschichte verändert?

Er ist als Romanfigur so spannend, weil man nicht sagen kann, er war so oder so. Wir kennen jedoch all das kommt in dem Buch auch vor – die Hypotheken seines Lebens. Er war Jude und wollte in die Mitte der Gesellschaft. Er konnte keine langfristige Bindung eingehen und liebte die Frauen, insbesondere durch Höhen und Tiefen die verheiratete Lili Deutsch, auf heftige Weise platonisch. Er sah sich als Künstler und musste als Sohn seines übergroßen Vaters in die Industrie. Denn der Vater Emil hatte mit seinem Start-up, das er wenige Jahre später AEG nannte, einen alle Kräfte zehrenden Aufstieg gemacht und sah seine Söhne nur dort, wo auch er war. Rathenau war einer der großen Muttersöhne und viele Jahre ein fast blinder Verehrer Preußens. Er wurde Demokrat und Republikaner und ist für diese Überzeugung gestorben. Sein Nachruhm war kurz, 1933 wurde der Jude Rathenau aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt und alle Hinwiese auf ihn unkenntlich gemacht. Was bis heute geblieben ist, ist der Rechtsterror, der in der Weimarer Republik mit einer Serie von Morden seinen Anfang nahm und bis heute, wir alle kennen die Orte und Taten, sein Unwesen treibt. Vielleicht wollte ich, dass Walther Rathenau nicht vor allem als Opfer erinnert wird, sondern als ein faszinierender, buntfächeriger, uns heute angehender Mann. Uns fern und nah zugleich. Es ist in den vergangenen Jahren viel über ihn geschrieben worden, aber kaum etwas in der Form des Romans. Nun gebe ich ihm auf meine Weise eine Stimme.

Sind alle Figuren in Ihrem Roman historisch?

Die kurze Antwort wäre: Ja, bis auf einen. Aber auch dieser eine, der für die letzten Wochen Rathenaus so wichtige, muss so erzählt werden, dass es ihn so und nicht anders gegeben haben könnte. Die Leser:innen mögen beurteilen, ob mir das gelungen ist.
Amos Roth ist eine Erfindung – die einzige in dem Buch – und ich hoffe, er ist so gut erfunden, dass er schon wieder wahr ist.
Alle anderen entstammen dem tatsächlichen Umfeld Rathenaus, und ihr Leben nach seinem Tod wird in einem Epilog von mir kurz beschrieben.

Auch in Ihren anderen beiden Romanen, Morgenland und Das Licht jener Tage, beschäftigen Sie sich mit jüdischer Identität und Geschichte, und in beiden Romanen ist ein bestimmtes politisches Setting für den Verlauf der Handlung ausschlaggebend. Warum ist es Ihnen ein Anliegen, diese Themen literarisch zu bearbeiten?

Ich bin ein neugieriger Mensch und auch ich habe, wie wir alle, meine Lebensthemen. Eines ist die Geschichte meiner Familie und ihre deutsch-jüdische Vergangenheit. Sie literarisch zu umkreisen und auf unterschiedliche Arten neu aufzubrechen, lockt mich immer wieder. Meine unstillbare Neugierde dazu genommen bringt mich dazu, vor allem über das zu schreiben, was ich nicht kenne. Über das, was war oder so gewesen sein könnte. Über das, was ich mir selbst erst erschließen muss. So entstehen Zeitreisen, zu denen ich die Leser:innen einlade und mit meiner Neugierde anstecken möchte. Bei Walther Rathenau ist es die lange Reise zu sich selbst, ganz Mensch und zugleich neu zu entdeckende Epochenfigur. Zusteigen, bitte.

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