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Von Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft hat ein Land ganz besonders profitiert: Deutschland. Denn die Deutschen lieferten genau die Geräte, Maschinen und Vorprodukte, die die chinesische Wirtschaft für ihren Aufstieg brauchte

Ein Kellner versucht, Besucher in ein Restaurant in Peking zu locken
Ein Kellner versucht, Besucher in ein Restaurant in Peking zu locken

Foto: Kevin Frayer/Getty Images

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China - Auswege aus einem Dilemma

China - Auswege aus einem Dilemma

Felix Lee, Finn Mayer-Kuckuk

Hardcover

256 Seiten

22 €

In Kooperation mit Ch. Links Verlag

China - Auswege aus einem Dilemma

Deutschland hat gute Jahrzehnte hinter sich. Das mag vielleicht nicht jeder und jede Einzelne zu spüren bekommen haben, aber insgesamt sind die Deutschen sehr viel wohlhabender geworden. Die Löhne sind gestiegen, die Vermögen ebenfalls. Kleidung, Spielzeug, Elektroartikel und viele andere Konsumartikel wurden derweil lange Zeit kaum teurer.

Dieses robuste Wachstum bei geringen Preissteigerungen hat vor allem ein Land möglich gemacht: China. Den Aufstieg von einem armen und rückständigen Land zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hat China einem gigantischen Heer von Arbeiterinnen und Arbeitern zu verdanken. Diese strebten nach Wohlstand und waren bereit, die Weltmärkte zu niedrigen Löhnen mit günstigen Waren zu versorgen. Die politische Führung unterstützte diese Entwicklung. Sie ließ Fabriken, Straßen, Schienen, Datennetze, aber auch Schulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen bauen. Außerdem lenkte sie die Wirtschaft hin zu immer wertigeren Produkten. Durch dieses geschickte Zusammenspiel hat sich China technisch an die Weltspitze gehievt.

Von Chinas Einbindung in die Weltwirtschaft haben fast alle Länder profitiert. Eines aber ganz besonders: Deutschland. Denn die Deutschen lieferten genau die Geräte, Maschinen und Vorprodukte, die die chinesische Wirtschaft für ihren Aufstieg brauchte. Von Deutschland übernahmen die Chinesen zugleich viel Know-how und Managementwissen.

Die Deutschen haben ganz besonders zu Chinas Aufstieg beigetragen. Wer in den Nuller- und Zehnerjahren in Peking und Shanghai unterwegs war, konnte sich davon überzeugen: Dort wohnten, arbeiteten und vergnügten sich Zehntausende Deutsche, zumeist Vertreter von deutschen Firmen und ihre Angehörigen. Aber auch in den neu entstandenen Industriezonen in der Provinz stellten sie mit Abstand die größte Gruppe westlicher Ausländer. Für ihre Bedürfnisse entstanden eigene Schulen, Läden und Biergärten.

Deutschland als Profiteur

Für die Deutschen wurde China zum größten Absatzmarkt der Welt, und sie stießen auf dankbare Abnehmer. Sie kamen als Lehrmeister und fühlten sich in dieser überlegenen Rolle sichtbar wohl. Die deutschen Unternehmer wollten aber nicht nur die billige Arbeitskraft ausnutzen, sondern viele von ihnen waren ehrlich an der Entwicklung des Landes interessiert. Die Stimmung war gut, man versicherte sich gegenseitig der guten Partnerschaft. »Made in Germany« war ein Gütesiegel, die deutsche Produkte waren hoch angesehen. Wenn es nach den Geschäftsleuten gegangen wäre, hätte es ewig so weitergehen können.

Noch ist diese nützliche Wechselbeziehung nicht an ihr Ende gekommen, aber sie ist zum Problem geworden. Von der großen Chance hat sich China zum vielleicht größten Dilemma für Deutschlands Wirtschaft und Politik gewandelt.

China ist nicht mehr der friedliche Riese, der sich nur entwickeln und seine Menschen aus der Armut holen will. Die Erwartung, das aufstrebende Land werde sich in die internationale Weltordnung einfügen, die Europa und die USA vorgegeben haben, erwies sich schlicht als falsch. China zeigt sich als mächtiger Spieler, der die globalen Beziehungen umformt und auf seine eigenen Interessen ausrichtet.

China ist auch nicht mehr der Bittsteller, der den Investoren dankbar ist und zu ihnen aufschaut. Insbesondere die Deutschen, die sich eben noch in der Rolle des Lehrmeisters gefallen haben, erleben hier manchen Schockmoment. Die Volksrepublik hat Deutschland in vielen Bereichen technologisch überholt und schickt sich an, die Technologien von morgen lange vor Deutschland zu besetzen. Die chinesische Führung hat vorgegeben: Das Land soll bis 2049 wirtschaftlich, kulturell und militärisch global an der Spitze stehen. Gut die Hälfte der To-do-Liste hat China bereits abgehakt. Deutsche Unternehmen müssen plötzlich von den überlegenen Chinesen lernen.

Geopolitisch stellt sich China als neue Weltmacht dar, die sich in ihrem weiteren Aufstieg von den USA behindert sieht. Unverhohlen unterstützt die Volksrepublik nicht nur das russische Kriegstreiben in der Ukraine, sondern schmiedet mit großem Erfolg neue Bündnisse mit Ländern des Globalen Südens. Für China ist das eine Alternative zur alten Weltordnung, die vom Westen dominiert war – und für die Länder des Globalen Südens ebenfalls.

Die USA wiederum machen Druck auf die EU und insbesondere auf die Bundesrepublik. Washington fordert die Europäer auf, sich für eine Seite zu entscheiden. Spielt Deutschland nicht für Team USA, drohen diese mit der Aufkündigung der Sicherheitsgarantien.

Menschenrechte sind zweitrangig

Was demokratische Werte und die Einhaltung der Menschenrechte betrifft, ist China trotz seiner Öffnungspolitik und seines wirtschaftlichen Aufstiegs immer ein Unrechtsstaat geblieben. Das hat Deutschland und alle anderen westlichen Staaten in den vergangenen vier Jahrzehnten nicht davon abgehalten, immer mehr in die Volksrepublik zu investieren. »Wandel durch Handel« lautete der Spruch, mit dem man sich das Engagement schönredete: Profit machen und dabei noch Gutes tun. Die Phrase musste vor allem dann herhalten, wenn die kommunistische Führung wieder besonders heftig gegen Dissidenten vorging, gegen Tibeter oder die muslimische Minderheit der Uiguren. Das Wegschauen rächt sich jetzt. Der Wandel führte politisch in die denkbar schlechteste Richtung, und Deutschland ist zum Komplizen der Unterdrücker geworden.

Kurzsichtiges Handeln, Unkenntnis der chinesischen Ziele und der chinesischen Vorgehensweise, vielleicht auch Ignoranz und eine gewisse Überheblichkeit holen Deutschland jetzt ein. Es hat sich abhängig von China gemacht – bis hin zur Erpressbarkeit. Die bekanntesten Großunternehmen wie VW und BASF und die führenden Branchen wie der Maschinenbau kommen ohne China nicht mehr aus. Das Geschäft in der Volksrepublik macht einen so großen Teil ihrer Bilanzen aus, dass ein Rückzug aus Aktionärssicht ein großes Unglück wäre. Europa zögert, Sanktionen im Falle eines Übergriffs auf Taiwan anzudrohen. Denn ohne Lieferungen aus China läuft in den Fabriken der EU kaum noch etwas.

Das betrifft nicht nur Zulieferteile wie Batterien oder die für moderne Industrien so fundamental wichtigen Halbleiter, sondern auch Antibiotika oder Industrierohstoffe wie Seltene Erden. Deutschlands Energiewende beruht zu einem großen Teil auf günstigen Photovoltaikanlagen aus China. Ein Ende des China-Handels würde nicht nur viele Prozentpunkte Wachstum kosten und soziale Verwerfungen auslösen. Er könnte Deutschlands gesamte Industrie zum Erliegen bringen.

Wenn China hustet, fängt Deutschland sich eine Grippe ein. Und derzeit hustet es. Nach mehr als drei Jahrzehnten unaufhörlich hoher Wachstumsraten schwächelt Chinas Wirtschaft. Das Land hat gewaltige Überkapazitäten geschaffen. Das ist auf der einen Seite wirtschaftlich ungesund. Auf der anderen Seite versucht China, seine Waren in die Weltmärkte zu drücken. Chinesische Elektroautos sind nicht nur gut, sondern auch günstig. Deutschlands wichtigster Industriezweig steht unter Druck.

Für die Deutschen ist das China-Dilemma noch größer als für andere Länder. Wie konnte es so weit kommen? Hat China das alles bewusst eingefädelt? Waren wir blind oder naiv oder beides? Und vor allem: Wie kommen wir da wieder heraus? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es genauer auf China zu schauen. Nicht nur in der Gegenwart, sondern auch auf wichtige Entwicklungen in der Vergangenheit und mögliche in der Zukunft.

Wir müssen China verstehen

Was in Deutschland fehlt, ist ein Verständnis dafür, wie das Land tickt, wie die chinesische Führung und wie Chinas Bürgerinnen und Bürger denken. Es fehlt Wissen über Chinas strategisches Handeln und seine Ziele. Ebenso wenig gibt es einen Konsens darüber, wie wir der Volksrepublik und ihrem weltweiten Machtanspruch gegenübertreten sollten. Dieses Buch will die richtigen Fragen stellen, um plausible Antworten darauf zu finden, wie wir im Umgang mit China wieder souveräner und erfolgreicher werden können.

Hinter den beschriebenen Entwicklungen stehen Menschen. Es kommen daher auch wichtige Akteure aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und den Medien zu Wort, Gestalter, Beobachterinnen und Mahner. Sie haben das deutsche Verhältnis zu China mitgeprägt. Aus ihren verschiedenen Blickwinkeln ergibt sich ein fein abgestuftes Bild.

Ein differenzierter Blick ist wichtig, denn für das China-Dilemma gibt es keine einfache Lösung. Wir müssen China genauer zuhören, aber wir müssen ihm auch widersprechen. Noch wichtiger aber ist: Wir müssen uns selbst ändern, um unseren Wohlstand und unsere Unabhängigkeit im globalen Wettbewerb zu erhalten. Die neue Konkurrenz aus Fernost kann auch eine Motivation sein, längst fällige Modernisierungen und Veränderungen mit Tatkraft und Optimismus anzugehen.

Felix Lee und Finn Mayer-Kuckuk

Berlin, August 2024

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