Vorwort
In den frühen 1990er-Jahren lebte ich immer wieder während mehrerer Monate in Jerusalem und forschte in den Privatbibliotheken einiger der ältesten Familien der Stadt, einschließlich meiner eigenen. Mit meiner Frau und unseren Kindern wohnte ich im Herzen der dicht bevölkerten, lärmigen Altstadt, in einer Wohnung, die einer religiösen Stiftung der Familie Khalidi gehörte. Vom Dach dieses Gebäudes aus hatten wir die zwei Meisterwerke der frühen islamischen Architektur vor Augen: Kaum dreihundert Meter vor uns ragte der goldglänzende Felsendom auf, der auf dem Haram asch-Scharif, dem »Tempelberg« lag. Dahinter war die kleinere silbergraue Kuppel der al-Aqsa-Moschee mit dem Ölberg im Hintergrund zu sehen.1 Und ringsum waren die Kirchen und Synagogen der Altstadt.
Das Hauptgebäude der Khalidi-Bibliothek befand sich in der Bab El-Silsilah-Straße. Mein Großvater, Hadsch Raghib al-Khalidi, hatte sie 1899 mit einem Vermächtnis seiner Mutter, Chadija al-Khalidi, gegründet.2 Diese Bibliothek beherbergt mehr als zwölfhundert Manuskripte, meist in arabischer Sprache (einige in Persisch und osmanischem Türkisch), von denen die ältesten aus dem frühen 11. Jahrhundert stammen.3 Mit etwa zweitausend arabischen Büchern aus dem 19. Jahrhundert und den Dokumenten des Familienarchivs ist diese Sammlung eine der umfangreichsten in ganz Palästina, die sich noch in den Händen ihrer ursprünglichen Besitzer befindet.4
Während meines Aufenthalts wurde das aus dem 13. Jahrhundert stammende Hauptgebäude der Bibliothek gerade restauriert. Die Bestände waren in großen Pappkartons in einem Gebäude aus der Mamelucken-Zeit zwischengelagert, das durch eine schmale Treppe mit unserer Wohnung verbunden war. Ich verbrachte insgesamt mehr als ein Jahr zwischen diesen Kisten und arbeitete mich durch staubige, wurmzerfressene Bücher, Dokumente und Briefe, die den früheren Generationen der Khalidis gehört hatten, unter ihnen auch meinem Ur-Ur-Großonkel, Yusuf Diya al-Din Pascha al-Khalidi.5 Durch seine Hinterlassenschaft entdeckte ich diesen welt gewandten Mann, der in Jerusalem, Malta, Istanbul und Wien eine umfassende Bildung erworben hatte, der sich intensiv mit vergleichender Religionswissenschaft beschäftigt hatte, insbesondere mit dem Judentum, und der zahlreiche Bücher in europäischen Sprachen zu weit gefächerten Themen besaß.
Yusuf Diya stand in der langen Reihe islamischer Gelehrten und Rechtsbeamten in Jerusalem. Sein Vater, Sayyid Mohammed Ali al-Khalidi, hatte fast ein halbes Jahrhundert lang als stellvertretender Richter und Sekretariatsleiter des Jerusalemer Scharia-Gerichts gedient. Doch schon in jungen Jahren wollte Yusuf Diya einen anderen Weg einschlagen. Nach Abschluss seiner traditionellen islamischen Ausbildung verließ er Palästina im Alter von achtzehn Jahren und brach nach Malta auf – ohne die Einwilligung seines Vaters, wie berichtet wird. Zwei Jahre blieb er an einer Schule der britischen Church Mission Society. Danach zog er weiter nach Istanbul an die Imperial School of Medicine und besuchte dort anschließend das Robert College, das protestantische Missionare aus den USA soeben gegründet hatten. Fünf Jahre studierte Yusuf Diya an dieser in der Region führenden Hochschule, die eine moderne Ausbildung nach westlichem Vorbild vermittelte, und lernte Englisch, Französisch, Deutsch und vieles mehr. Ein ungewöhnlicher Werdegang für den Sprössling einer Familie muslimischer Religionsgelehrter in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Nach dieser umfassenden Ausbildung bekleidete Yusuf Diya verschiedene Funktionen als Beamter des Osmanischen Reiches. Er war Übersetzer im Außenministerium, Konsul in der russischen Hafenstadt Poti am Schwarzen Meer, Bezirksgouverneur in Kurdistan, Libanon, Palästina und Syrien, sowie fast ein Jahrzehnt lang Bürgermeister von Jerusalem. Abstecher führten ihn nach Wien, wo er zeitweise an der kaiserlichen Universität lehrte. Als 1876 im Rahmen der neuen Verfassung des Osmanischen Reiches ein kurzlebiges Parlament gegründet wurde, war er Abgeordneter von Jerusalem und zog sich die Feindschaft von Sultan Abdul Hamid zu, weil er die Vorrechte des Parlaments gegenüber der Exekutive verfocht.6
Im Einklang mit der Familientradition und seiner islamischen wie auch westlichen Bildung wurde al-Khalidi ein angesehener Gelehrter. Die Khalidi-Bibliothek enthält seine umfangreiche Bibliothek in französischer, deutscher und englischer Sprache, sowie seine Korrespondenz mit Gelehrten in Europa und im Nahen Osten. Österreichische, französische und britische Zeitungen der Zeit zeugen davon, dass er regelmäßig die internationale Presse verfolgte. Es gibt Hinweise darauf, dass er sie über das österreichische Postamt in Istanbul bezog, das nicht der drakonischen osmanischen Zensur unterworfen war.7
Seine weit gespannte Lektüre, seine Erfahrungen in Wien und anderen europäischen Ländern sowie die Begegnungen mit christlichen Missionaren hatten ihm die Allgegenwart des westlichen Antisemitismus bewusst gemacht. Sein Wissen über die Ursprünge des Zionismus war beeindruckend, er wusste, dass der Zionismus als Antwort auf den virulenten Antisemitismus des christlichen Europa entstanden war. Zweifellos kannte er das 1896 erschienene Buch Der Judenstaat des Wiener Journalisten Theodor Herzl und wusste über die ersten beiden zionistischen Kongresse in Basel 1897 und 1898 Bescheid.8 Man kann zudem davon ausgehen, dass Yusuf Diya schon während seines Aufenthalts in Wien von Herzl gehört hatte. Die Debatten der verschiedenen zionistischen Strömungen waren ihm vertraut, einschließlich Herzls Forderung nach einem Staat für die Juden mit dem »souveränen Recht«, die Einwanderung zu kontrollieren. Als Bürgermeister von Jerusalem erlebte er zudem mit, wie die Ankunft der ersten europäischen jüdischen Siedler in den späten 1870er- und frühen 1880er-Jahren zu Konflikten mit der lokalen Bevölkerung führte.
Herzl, der anerkannte Führer der wachsenden, von ihm gegründeten Bewegung, bereiste ein einziges Mal Palästina, im Jahr 1898, gleichzeitig mit dem Besuch des deutschen Kaisers Wilhelm II. Herzl hatte bereits begonnen, über einige der mit der Kolonisierung Palästinas verbundenen Fragen nachzudenken. 1895 schrieb er in sein Tagebuch: »Den Privatbesitz der angewiesenen Ländereien müssen wir sachte expro-priiren. Die arme Bevölkerung trachten wir unbemerkt über die Grenze zu schaffen, indem wir ihr in den Durchzugsländern Arbeit verschaffen, aber in unserem eigenen Lande jederlei Arbeit verweigern. Die besitzende Bevölkerung wird zu uns übergehen. Das Expropriationswerk muss ebenso wie die Fortschaffung der Armen, mit Zartheit und Behutsamkeit erfolgen.«9
Yusuf Diya war sich wohl mehr als die meisten seiner Landsleute in Palästina der Ambitionen der entstehenden zionistischen Bewegung bewusst. Er erkannte ihre Kraft, ihre Ressourcen und Anziehungskraft. Er war sich darüber im Klaren, dass die Ansprüche des Zionismus auf Palästina und das Ziel eines souveränen jüdischen Staates nicht mit den Rechten und dem Wohlergehen der einheimischen Bevölkerung des Landes in Einklang zu bringen waren. Vermutlich aus diesen Gründen sandte Yusuf Diya am 1. März 1899 einen siebenseitigen Brief voller Weitblick an den französischen Oberrabbiner Zadoc Kahn mit der Bitte, das Schreiben an Herzl weiterzuleiten.
Im Brief drückte Yusuf Diya seine Bewunderung für Herzl aus, den er »als Menschen und als talentierten Schriftsteller wie auch als echten jüdischen Patrioten« schätzte. Er zeigte seinen Respekt für das Judentum und die Juden. »Für uns sind Sie Vettern« schrieb er, womit er sich auf den Patriarchen Abraham bezog, der von Juden und Muslimen als gemeinsamer Vorfahre verehrt wurde.10 Er zeigte Verständnis für die Beweggründe des Zionismus und beklagte die Verfolgung der Juden in Europa. Vor diesem Hintergrund, so schrieb er, sei der Zionismus im Prinzip »natürlich, schön und gerecht«. Und: »Wer denkt daran, den Juden das Recht auf Palästina zu bestreiten? Mein Gott, historisch gesehen ist es wohl Ihr Land!«
Dieser Satz wird manchmal isoliert vom Rest des Briefes zitiert, um Yusuf Diya als begeisterten Unterstützer des zionistischen Projekts in Palästina darzustellen. Der ehemalige Bürgermeister und Abgeordnete von Jerusalem warnte jedoch vor den Gefahren, die er als Folge eines souveränen jüdischen Staats in Palästina voraussah. Die zionistische Idee würde dort Zwietracht unter Christen, Muslimen und Juden säen. Sie würde die Stellung der Juden im Osmanischen Reich gefährden, die dort immer Sicherheit genossen hatten. Yusuf Diya erklärte nüchtern, dass bei allen Vorzügen des Zionismus die »brutale Gewalt der Umstände« berücksichtigt werden müsse. Vor allem, dass »Palästina jetzt integraler Bestandteil des Osmanischen Reiches ist und – was schwerer wiegt – von anderen als den Israeliten bewohnt wird«. Palästina hatte bereits eine einheimische Bevölkerung, die niemals akzeptieren würde, verdrängt zu werden. »Ich weiß, worüber ich rede«, betonte Yusuf Diya und erklärte, dass es »reine Verrücktheit« sei, wenn der Zionismus plane, Palästina in Besitz zu nehmen. »Man möge anderswo für die unglückliche, aber deswegen nicht weniger gerechte jüdische Nation einen Platz suchen«, aber, so schloss er mit einem leidenschaftlichen Appell, »um Gottes willen, man soll Palästina in Ruhe lassen.«
Herzls Antwort an Yusuf Diya kam schnell, am 19. März. Sein Brief war wahrscheinlich die erste Reaktion eines Gründers der zionistischen Bewegung auf einen palästinensischen Einwand gegen die noch in den Kinderschuhen steckenden Pläne für Palästina. Herzls Argumente wurden zu einem Muster dafür, wie künftig die Interessen und manchmal sogar die Existenz der einheimischen Bevölkerung als unbedeutend abgetan werden sollten. Er ignorierte die Grundaussage des Briefes, dass Palästina bereits bewohnt und die Bevölkerung nicht gewillt war, sich verdrängen zu lassen. Wie die meisten frühen europäischen Zionisten wusste er kaum etwas über die einheimische Bevölkerung und hatte keine Kontakte zu ihr. Er ging auch nicht auf al-Khalidis begründete Bedenken ein, dass das zionistische Programm eine Gefahr für die großen, gut etablierten jüdischen Gemeinden im gesamten Nahen Osten darstellen würde.
Herzl führte das Standardargument aller Kolonialisten zu allen Zeiten und in allen Weltteilen ins Feld: Die jüdische Einwanderung würde der einheimischen Bevölkerung Palästinas zugutekommen. »Gerade ihr Wohlergehen und ihren persönlichen Reichtum werden wir vermehren, indem wir den unseren bringen.« In Anlehnung an seine Formulierungen in Der Judenstaat fügte er hinzu: »Wenn man eine Anzahl Juden einwandern läßt, die ihre Intelligenz, ihren Unternehmungsgeist und ihre finanziellen Mittel dem Land bringen, so muß es jedermann klar sein, daß das Wohl des gesamten Landes dessen Ergebnis sein wird.«11
Auffallend ist, dass Herzl in seinem Brief auf ein Thema zu sprechen kommt, das Yusuf Diya gar nicht angesprochen hatte. »Sie sehen ein anderes Problem in der Existenz der nichtjüdischen Bevölkerung in Palästina. Wer denkt schon daran, sie zu entfernen!«12 Mit dieser Zusicherung als Antwort auf al-Khalidis unausgesprochene Frage spielt Herzl auf den in seinem Tagebuch festgehaltenen Wunsch an, die arme Bevölkerung des Landes »unbemerkt über die Grenzen zu schaffen«.13 Es gibt keinen Zweifel, dass Herzl die »Fortschaffung« der einheimischen Bevölkerung bereits als zentral für den Erfolg des Zionismus erkannt hatte. Auch die von ihm mitverfasste Charta der Jüdisch-Osmanischen Landgesellschaft (JOLC) von 1901 sollte dieser das Recht geben, Land in Palästina zu erwerben, und die Besitzer in »andere Provinzen und Länder des ottomanischen Reiches« umzusiedeln.14 Obwohl Herzl in seinen Schriften betonte, dass sein Projekt auf »der höchsten Toleranz« mit vollen Rechten für alle basierte,15 war damit nur die Duldung von Minderheiten gemeint, die nach der Umsiedlung der übrigen Bevölkerung verbleiben würden.
Herzl unterschätzte seinen Korrespondenzpartner. Aus al-Khalidis Brief geht hervor, dass er sehr wohl verstand, dass es um wesentlich mehr ging als die Einwanderung einer begrenzten »Anzahl Juden« nach Palästina. Angesichts von Herzls Antwort musste sich Yusuf Diya wohl fragen, ob Herzl ihm die wahren Ziele der zionistischen Bewegung verheimlichte. Oder ob Herzl ihn ganz einfach nicht ernst nahm.
Mit der Überheblichkeit, die für das Europa des 19. Jahrhunderts so typisch war, argumentierte Herzl mit den Vorteilen der Kolonisierung und letztlich der Usurpation des Landes für dessen Bewohner. Er schien darauf zu bauen, dass die Araber letztlich bestochen oder getäuscht werden könnten und nicht erkennen würden, was die zionistische Bewegung tatsächlich für Palästina beabsichtigte. Diese Form der Herablassung ist über die folgenden Jahrzehnte bis zum heutigen Tag bei zionistischen, britischen, europäischen und amerikanischen Politikern immer wieder anzutreffen. Im jüdischen Staat, der schließlich von der durch Herzl begründeten Bewegung geschaffen wurde, sollte, wie Yusuf Diya voraussah, nur für ein Volk Platz sein, für das jüdische Volk: andere würden in der Tat »weggezaubert« oder bestenfalls geduldet.
Yusuf Diyas Briefwechsel mit Herzl ist unter Historikern bekannt, aber die meisten haben diesen ersten Austausch zwischen einer führenden palästinensischen Persönlichkeit und einem Gründer der zionistischen Bewegung nicht in seiner vollen Bedeutung erkannt. Herzls Argumentation bezeugt klar den kolonialen Charakter des Jahrhundertkonflikts in Palästina. Yusuf Diyas Befürchtungen von 1899 haben sich seither in vollem Umfang bewahrheitet.
Nach dem Ersten Weltkrieg begann die Zersetzung der lokalen palästinensischen Gesellschaft durch die massive Einwanderung europäisch-jüdischer Siedler, unterstützt von den neu eingerichteten britischen Mandatsbehörden, die beim Aufbau eines zionistischen Parastaats mit autonomen Strukturen Sukkurs leisteten. Durch den Ausschluss arabischer Arbeitskräfte aus jüdischen Unternehmen unter dem Slogan »Avoda ivrit«, hebräische Arbeit, und den Zustrom ausländischen Kapitals wurde zudem ein gesonderter, jüdisch kontrollierter Wirtschaftssektor geschaffen.16 Mitte der 1930er-Jahre war dieser weitgehend autonome Sektor größer als der in arabischem Besitz befindliche Teil der Wirtschaft, obwohl die Araber immer noch die Mehrheit der Bevölkerung stellten.
Die unerbittliche Repression des Großen Arabischen Aufstands von 1936–39 gegen die britische Herrschaft schwächte die einheimische Bevölkerung zusätzlich. 10% der erwachsenen männlichen Bevölkerung wurden getötet, verwundet, inhaftiert oder ins Exil geschickt.17 Die Briten setzten 100000 Soldaten und Luftstreitkräfte ein, um den palästinensischen Widerstand zu brechen. Gleichzeitig führte die neue jüdische Einwanderungswelle, ausgelöst durch die Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, dazu, dass der jüdische Bevölkerungsanteil in Palästina von 18% im Jahr 1932 auf über 31% im Jahr 1939 anstieg. Damit wurde demografisch eine kritische Größe erreicht, weil nun auch genügend Kämpfer im Land waren, die es für die ethnische Säuberung Palästinas im Jahr 1948 brauchte. Als dann 1948 mehr als die Hälfte der arabischen Bevölkerung aus dem Land vertrieben wurde, zunächst durch zionistische Milizen und dann durch die israelische Armee, war der militärische und politische Triumph des Zionismus perfekt.
Solche radikalen gesellschaftlichen Umschichtungen auf Kosten der einheimischen Bevölkerung sind ein Kennzeichen aller kolonialen Siedlerbewegungen. In Palästina schufen sie die Grundlage für die Umwandlung eines überwiegend arabischen Landes in einen überwiegend jüdischen Staat. Dieses Buch legt dar, dass die moderne Geschichte Palästinas in diesem Sinne verstanden werden muss: als ein Kolonialkrieg, der von verschiedenen Seiten gegen die einheimische Bevölkerung geführt wurde, um sie zu zwingen, ihre Heimat gegen ihren Willen an eine andere Bevölkerungsgruppe abzutreten.
Obwohl dieser Krieg viele typische Merkmale anderer kolonialer Projekte aufweist, zeigt er auch sehr spezifische Besonderheiten, da die zionistische Bewegung ein koloniales Projekt mit ganz eigenen Prägungen war und ist. Noch komplexer wird dieser Konflikt, weil er – obwohl mit massiver Unterstützung externer Mächte ausgetragen – im Laufe der Zeit zu einer Konfrontation zwischen zwei neuen nationalen Einheiten, zwei Völkern, wurde. Dies wiederum ist verknüpft und wird verstärkt von der tief verankerten, biblischen Verbindung zum historischen Land Israel bei Juden und auch vielen Christen. Diese Gefühlsbindungen wurden geschickt in den modernen politischen Zionismus eingewoben und zu seinem integralen Bestandteil. Eine kolonial-nationale Bewegung des späten 19. Jahrhunderts warf sich einen biblischen Mantel um, der bibeltreue Protestanten in Großbritannien und den Vereinigten Staaten geneigt und für die Modernität des Zionismus und seinen kolonialen Charakter blind machte: Wie konnte man Juden die »Kolonisierung« jenes Landes vorwerfen, in dem einst ihre Religion ihren Anfang genommen hatte?
Aufgrund dieser Blindheit wird der Konflikt, bestenfalls, auf eine tragische Konfrontation zwischen zwei Völkern mit Rechten auf dasselbe Land reduziert. Schlimmstenfalls wird er als das Ergebnis eines fanatischen, eingefleischten Hasses von Arabern und Muslimen auf das jüdische Volk beschrieben, welches sein unveräußerliches Recht auf die ewige, gottgegebene Heimat einfordert. In der Tat gibt es keinen Grund, warum das, was seit über einem Jahrhundert in Palästina geschehen ist, nicht unter beiden Aspekten verstanden werden kann – sowohl als kolonialer wie auch als nationaler Konflikt. Unser Anliegen hier ist jedoch, seinen kolonialen Aspekt als zentral aufzuzeigen, weil er bislang unterschätzt wurde.
Immer wenn europäische Kolonisatoren versucht haben, indigene Völker zu verdrängen oder zu beherrschen, sei es in Amerika, Afrika, Asien oder Australasien (oder auch in Irland), haben sie diese in abwertenden Begriffen beschrieben. Auch dass die einheimische Bevölkerung durch die neue Herrschaft bessergestellt werde, gehört zu den üblichen Argumenten. Der »zivilisierende« und »fortschrittliche« Charakter des kolonialen Projekts soll die Ungeheuerlichkeiten, die dabei an der einheimischen Bevölkerung verübt werden, rechtfertigen. Man erinnere sich nur an die Rhetorik der französischen Verwalter in Nordafrika oder der britischen Vizekönige in Indien. Über das britische Reich in Indien sagte Lord Curzon: »Zu fühlen, dass man irgendwo unter diesen Millionen ein wenig Gerechtigkeit oder Glück oder Wohlstand, einen Sinn für Menschlichkeit oder moralische Würde, eine Quelle des Patriotismus, eine Morgendämmerung intellektueller Aufklärung oder ein Aufwallen von Pflichtgefühl hinterlassen hat, wo es das vorher nicht gab – das ist genug, das ist die Rechtfertigung des Engländers in Indien.«18 Die Worte »wo es das vorher nicht gab« sollten unterstrichen werden. Curzon und andere seiner kolonialen Klasse hielten die Einheimischen für unfähig, selbst ihr Bestes zu erkennen und zu erreichen. »Ihr könnt es nicht ohne uns schaffen«, sagte Curzon in einer anderen Rede.19
Seit über einem Jahrhundert wird über die Palästinenser in genau diesen Wendungen gesprochen. Die herablassende Rhetorik von Theodor Herzl und anderen zionistischen Führern unterschied sich nicht von der ihrer europäischen Kollegen. Der jüdische Staat, so schrieb Herzl, würde für Europa »dort ein Stück des Walles gegen Asien bilden, wir würden den Vorpostendienst der Kultur gegen die Barbarei besorgen«.20 So wurde auch von der Eroberung des nordamerikanischen Westens gesprochen, die im 19. Jahrhundert mit der Ausrottung oder Unterwerfung der gesamten indigenen Bevölkerung des Kontinents endete. Wie in Nordamerika sollte auch die Kolonisierung Palästinas – wie in Südafrika, Australien, Algerien und Teilen Ostafrikas – eine weiße europäische Siedlerkolonie hervorbringen. Der Ton, den wir in Curzons Rhetorik wie auch in Herzls Brief finden, prägt auch heute noch häufig in den Vereinigten Staaten, Europa und Israel den Diskurs über Palästina.
Im Einklang mit dieser kolonialen Logik gibt es eine Unmenge an Literatur, die beweisen soll, dass Palästina vor der Kolonisierung unfruchtbar, leer und rückständig war. Das historische Palästina wurde in der westlichen Populärkultur verfälscht und abgewertet, zudem in akademisch wertlosen Arbeiten voller historischer Fehler, falscher Darstellungen und manchmal offener Bigotterie verzerrt. In dieser Literatur wird allenfalls konzediert, dass das Land von vereinzelten wurzellosen nomadischen Beduinen bevölkert war, die keine feste Identität und keine Bindung an das Land hatten, sondern im Wesentlichen nur Durchreisende waren.
So kam es zur Vorstellung, dass erst die Arbeit und Tatkraft der neuen jüdischen Einwanderer diesen vernachlässigten Landstrich zu dem blühenden Garten gemacht hätten, der es angeblich heute ist. Und dass nur sie sich mit dem Land identifizierten, es liebten und ein (gottgegebenes) Recht darauf hätten. Der Slogan »Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« fasst diese Haltung zusammen, er wurde von christlichen Befürwortern eines jüdischen Palästina sowie von frühen Zionisten wie Israel Zangwill verwendet.21 Palästina war für diejenigen, die kamen, um es zu besiedeln, terra nullius, und die dort lebenden Menschen waren namen- und gesichtslos.
In seinem Brief an Yusuf Diya bezeichnete Herzl die palästinen-sischen Araber, die damals etwa 95% der Einwohner ausmachten, als »nicht-jüdische Bevölkerung«. So unbekümmert gingen auch die meisten späteren Pläne zur Aufteilung Palästinas mit den Palästinensern um. Die Balfour-Erklärung von 1917, die von einem britischen Kabinett verabschiedet wurde und Großbritannien zur Schaffung einer nationalen jüdischen Heimstätte verpflichtete, erwähnte die Palästinenser, die damals die große Mehrheit der Bevölkerung des Landes ausmachten, mit keinem Wort, obwohl diese Erklärung die Zukunft Palästinas für das folgende Jahrhundert bestimmte.
Nicht zufällig vertraten viele der Gründerväter des Zionismus mit Stolz den kolonialen Charakter ihres Projekts. Der bedeutende Führer der revisionistischen Zionisten, Zeev Jabotinsky, Pate der politischen Strömung, die Israel seit 1977 beherrscht und von den Premierministern Menachem Begin, Jitzchak Schamir, Ariel Scharon, Ehud Olmert und Benjamin Netanjahu vertreten wird, war sich dessen besonders bewusst. Jabotinsky schrieb im Jahr 1923: »Jede indigene Bevölkerung in der Welt widersetzt sich den Kolonisten, solange sie die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr, kolonisiert zu werden, befreien zu können. Das ist es, was die Araber in Palästina tun, und was sie weiterhin tun werden, solange es einen einzigen Funken Hoffnung gibt, dass sie die Umwandlung von ›Palästina‹ in das ›Land Israel‹ verhindern können.« Solche Ehrlichkeit war selten. Herzl und andere beteuerten die Unschuld ihrer Ziele und versuchten, die westlichen Zuhörer – und vielleicht auch sich selbst – über ihre Absichten gegenüber den arabischen Bewohnern Palästinas zu täuschen.
Jabotinsky und seine Anhänger gehörten zu den wenigen, die unverblümt die harten Realitäten zugaben, die mit der Schaffung einer kolonialen Siedlergesellschaft inmitten einer bestehenden Bevölkerung unweigerlich einhergehen. Insbesondere räumte er ein, dass eine ständige Drohung mit massiver Gewalt gegen die arabische Mehrheit notwendig sein würde, um das zionistische Programm umzusetzen. Eine »eiserne Mauer« aus Bajonetten, wie er es nannte, sei unabdingbar. Wie Jabotinsky es ausdrückte: »Die zionistische Kolonisation (…) kann nur unter dem Schutz einer von der einheimischen Bevölkerung unabhängigen Macht fortschreiten und sich entwickeln – hinter einer eisernen Mauer, die die einheimische Bevölkerung nicht durchbrechen kann.«22 So konnte man sich noch ausdrücken in der hohen Zeit des Kolonialismus, als das, was westliche Länder den einheimischen Gesellschaften antaten, als selbstverständlich empfunden und als »Fortschritt« bezeichnet wurde.
Auch die sozialen und wirtschaftlichen Einrichtungen, die für den Erfolg des zionistischen Projekts von zentraler Bedeutung waren, wurden fraglos als kolonial verstanden und bezeichnet. Die wichtigste unter ihnen war die Jewish Colonization Association (JCA, 1924 umbenannt in Palestine Jewish Colonization Association). Gegründet vom deutsch-jüdischen Philanthropen Baron Maurice de Hirsch, wurde sie später mit einer ähnlichen, vom britischen Adligen und Finanzier Lord -Edmond de Rothschild gegründeten Organisation zusammengelegt. Die JCA stellte die massive finanzielle Unterstützung für umfangreiche Landkäufe und Zuschüsse bereit, wodurch die meisten der frühen zionistischen Kolonien in Palästina vor und während der Mandatszeit überleben und gedeihen konnten.
Es ist nicht verwunderlich, dass die kolonialen Ursprünge und die koloniale Praxis des Zionismus und Israels beschönigt und bequemerweise vergessen wurden, als der Kolonialismus in der Ära der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg einen schlechten Beigeschmack bekam. Tatsächlich gab sich der Zionismus – zwei Jahrzehnte lang das verhätschelte Stiefkind des britischen Kolonialismus – nun als antikoloniale Bewegung aus. Ausgelöst wurde diese drastische Kehrtwende durch die Sabotage- und Terrorkampagne gegen Großbritannien, nachdem dieses am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit dem Weißbuch von 1939 seine Unterstützung für die jüdische Einwanderung drastisch eingeschränkt hatte. Dieses Zerwürfnis zwischen einstigen Verbündeten (bis Ende der 1930er-Jahre hatte Großbritannien die jüdischen Siedler, denen es die Einreise ins Land erlaubte, bewaffnet und ausgebildet) förderte die irrige Vorstellung, dass die zionistische Bewegung selbst antikolonial sei.
Es bleibt eine Tatsache, dass sich der Zionismus zunächst fest an das British Empire geklammert hat. Nur im Windschatten des britischen Imperialismus konnte er sich erfolgreich in Palästina etablieren. Wie Jabotinsky betonte, hatten nur die Briten die Mittel, jenen Kolonialkrieg zu führen, der notwendig war, um den palästinensischen Widerstand gegen die Übernahme ihres Landes zu unterdrücken. Dieser Krieg dauert an, mal offen, mal verdeckt, aber immer mit stillschweigender oder offener Billigung – und oft mit direkter Beteiligung – durch die -jeweils herrschenden Weltmächte und mit Duldung durch die von ihnen beherrschten internationalen Gremien, des Völkerbundes und der Vereinten Nationen.
Selten wird heutzutage dieser Jahrhundertkonflikt, ausgelöst von einem europäischen Kolonialprojekt aus dem 19. Jahrhundert in einem außereuropäischen Land und seit 1917 unterstützt von der damals größten westlichen Imperialmacht, ungeschminkt beschrieben. Wer nicht nur die israelische Siedlungspolitik in Jerusalem, im Westjordanland und auf den besetzten syrischen Golanhöhen kritisiert, sondern das gesamte zionistische Projekt auf dem Hintergrund seines kolonialen Siedlercharakters analysiert, wird oft verunglimpft. Viele können den Widerspruch nicht akzeptieren, dass der Zionismus, obwohl es ihm zweifellos gelungen ist, eine florierende nationale Entität in Israel zu schaffen, seine Wurzeln in einem kolonialen Siedlerprojekt hat (was übrigens auch für andere moderne Länder gilt: die Vereinigten Staaten, Kanada, Australien und Neuseeland). Es fällt schwer, zu akzeptieren, dass es ohne den Sukkurs der imperialen Mächte – Großbritannien und später die Vereinigten Staaten – gescheitert wäre. Der Zionismus war also beides gleichzeitig: eine nationale und eine koloniale Siedlerbewegung.
Mein Plan ist es nicht, einen umfassenden Überblick über die palästinensische Geschichte zu verfassen, sondern ich will mich auf sechs Wendepunkte im Kampf um Palästina konzentrieren. Diese sechs Ereignisse, von der Balfour-Deklaration von 1917, die über das Schicksal Palästinas entschied, bis zur Belagerung des Gazastreifens durch Israel und seinen wiederholten Kriegen gegen die dortige, verdeutlichen den kolonialen Charakter des Hundertjährigen Krieges um Palästina und auch die entscheidende Rolle der externen Mächte.23 Ich erzähle diese Geschichte zum Teil vermittelt durch die Erfahrungen von Palästinensern, die diesen Krieg miterlebt haben. Viele von ihnen sind Mitglieder meiner Familie, die immer wieder in die Ereignisse involviert waren. Auch meine eigenen Erinnerungen und Erlebnisse habe ich mit einbezogen. Hinzu kommen Dokumente aus dem Besitz meiner eigenen und anderer Familien, sowie eine Vielzahl von Erlebnisberichten aus erster Hand. Mein Ziel ist es zu zeigen, dass dieser Konflikt mit neuen Augen gesehen und beurteilt werden muss.
Über verschiedene Aspekte der palästinensischen Geschichte habe ich bereits mehrere Bücher und zahlreiche Artikel auf rein akademischer Basis geschrieben.24 Auch dieses Buch ist wissenschaftlich fundiert, aber es hat auch eine persönliche Dimension, die in der Geschichtswissenschaft nicht üblich ist. Obwohl Mitglieder meiner Familie wie auch ich selbst seit Jahren als Zeugen oder Teilnehmer an den Ereignissen in Palästina involviert sind, sind unsere Erfahrungen nicht einzigartig, trotz der Vorteile, die wir aufgrund unserer Stellung und unseres Status genossen. Man könnte viele weitere solcher Selbstzeugnisse heranziehen, und immer noch bliebe viel »Geschichte von unten« über verschiedenste Bereiche der palästinensischen Gesellschaft unerzählt. Trotz der Spannungen, die sich aus diesem Ansatz ergeben, glaube ich, dass diese Erzählweise dazu beiträgt, die Geschichte Palästinas aus neuer Perspektive zu beleuchten, in einer Weise, die bislang noch fehlt.
Ich möchte hinzufügen, dass dieses Buch keine »Leidensgeschichte« der letzten hundert Jahre palästinensischer Geschichte sein will – um die brillante Kritik des großen Historikers Salo Baron an einer Tendenz der jüdischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts aufzugreifen.25 Die Palästinenser werden von denjenigen, die mit ihren Unterdrückern sympathisieren, beschuldigt, sich in ihrer eigenen Opferrolle zu suhlen. Tatsächlich waren die Palästinenser wie alle Völker, die Ziel von Kolonialkriegen waren, mit entmutigenden und manchmal unüberwindbaren Hindernissen konfrontiert. Es ist auch wahr, dass sie wiederholt Niederlagen erlitten haben und oft gespalten und schlecht geführt wurden. Dennoch konnten sie diesen Herausforderungen immer wieder erfolgreich trotzen, und in manchen Fällen hatten sie schlicht keine besseren Optionen.26 Bei alldem dürfen wir die gewaltigen internationalen Mächte und Kräfte nicht übersehen, die sich gegen sie gestellt haben und deren Ausmaß oft verkannt wurde. Gegenüber ihnen haben sie trotz allem eine bemerkenswerte Widerstandsfähigkeit gezeigt. Ich hoffe, dass dieses Buch diese Widerstandsfähigkeit widerspiegelt und dazu beiträgt, etwas von dem wiederherzustellen, was bisher diejenigen, die heute das gesamte historische Palästina dominieren und das damit verknüpfte Narrativ kontrollieren, aus der Geschichte herausretouchiert haben.