Es gibt in meinem Leben keinen normalen Tag. Seit zehn Jahren keinen normalen Tag, obwohl an jedem einzelnen alles nach Plan läuft. Nach einem strengen Plan. Ich weiß heute, was ich an jedem Tag der nächsten vier Wochen machen werde, von morgens bis abends. Und das weiß auch das Landeskriminalamt Berlin. Denn für Spontaneität ist in meinem Leben kein Platz mehr. Ich muss den Beamten, die mich rund um die Uhr bewachen, alle meine UnternehmungenWochenimVorausmitteilen,dennjederSchritt, den ich vor die Wohnung setze, muss abgesprochen und vorbereitet sein. Selbst wenn ich nur Brot kaufen oder zum Friseur gehen will, fährt ein Aufklärungsteam aus LKA-Beamten vor mir dorthin.
Alles begann im Juni in Kairo, als ich dort einen Vortrag über den islamischen Faschismus hielt. Damals wurde das Land von der Muslimbruderschaft regiert, und Kritik am Islamismus wurde als Kritik an der herrschenden Elite verstanden. Die säkularen Kräfte in Ägypten versuchten, sich gegen die Alleinherrschaft der Islamisten zu wehren und luden mich zu diesem Vortrag ein.
Ich sprach dort, als wäre ich noch in Deutschland, kritisierte die Muslimbrüder als eine faschistoide Bewegung, die Ideologie, Struktur und Ziele mit dem Faschismus teile. Wenig später verhängten drei prominente Islamisten im ägyptischen Fernsehen eine Todesfatwa gegen mich, weil ich angeblich den Propheten beleidigt hätte. Dabei hatte ich nur Taten und Aussagen des Propheten zitiert, die in den authentischen islamischen Quellen niedergeschrieben sind und die bis heute einen starken Einuss auf die Islamisten haben. Kurz darauf überschlugen sich die Ereignisse:
Islamisten veröffentlichten meine Kairoer Adresse in den sozialen Medien und schrieben »Wanted Dead!«. Der damalige deutsche Botschafter in Ägypten rief mich an und forderte mich auf, mein Geburtsland sofort zu verlassen, da mein Leben in Gefahr sei. Als ich auf Umwegen in Berlin ankam, wartete ein Personenschutzteam des LKA auf mich. Seitdem stehe ich unter permanentem Polizeischutz. Ich fahre nur noch in gepanzerten Fahrzeugen und vermeide jeden Kontakt zu Menschen, mit denen ich nicht eng befreundet bin.
Als ich mein Buch »Mohamed. Eine Abrechnung« veröffentlichte, wurde meine Sicherheitsstufe erhöht. Denn diesmal kam die Gefahr aus Deutschland selbst. Deutsche Islamisten, die in Syrien gegen das Regime von Baschar al-Assad kämpften, schickten an Islamisten in Deutschland einen Mordauftrag gegen mich. »Tötet Abdel-Samad, weil er den Propheten beleidigt hat«, lautete die Botschaft. Zum Glück gelang es den deutschen Sicherheitsbehörden, die Nachricht abzufangen, und sie entschieden, dass ich ab sofort die höchste Sicherheitsstufe habe. Das bedeutet Überwachung rund um die Uhr und ständige Begleitung durch bewaffnete Polizisten, auch im Flugzeug.
Ich war auf dem Weg zum Flughafen, um mein Buch auf der Frankfurter Buchmesse vorzustellen. Es sollte der bisherige Höhepunkt meiner Karriere als Autor werden. Das Buch war gerade auf Platz der »Spiegel«-Bestsellerliste gelandet, und mein Verlag wollte das mit mir auf der Messe feiern. Doch all das geriet in den Hintergrund, als mir der Kommandoführer meines Personenschutzteams am Flughafen eine kugelsichere Weste überreichte.
»Die sollten Sie immer tragen, wenn Sie in der Öffentlichkeit auftreten!« Die Weste war extrem schwer, ich konnte kaum darin atmen. Vielleicht war es aber auch die neue Dimension der Angst, die mir die Luft nahm und mich bedrückte. Der Kommandoführer fragte mich, ob ich meine Reise absagen wolle. »Sie müssen wissen, dass die Gefahr diesmal sehr real ist«, sagte er. Ich musste mich schnell entscheiden, denn das Flugzeug stand kurz vor dem Start.
Jetzt befand ich mich inmitten des Freiheitsdilemmas: Ich musste eine Entscheidung treen und die Konsequenzen tragen. Zwanzig Jahre zuvor war ich nach Deutschland gekommen, um in Freiheit zu leben, um zu sagen und zu schreiben, was ich in Ägypten nicht einmal zu denken wagte. Europa erschien mir als eine Oase der Rationalität und der Meinungsfreiheit. Religionskritik war für mich Teil der Aufklärung und neben der Religionsfreiheit die Voraussetzung für das Zusammenleben von Säkularen und Religiösen. Hier konnte ich auch sehr kontroverse Bücher veröffentlichen, die bis dahin in den Medien diskutiert wurden. Die einen mochten meine Analysen, die anderen hielten sie für unbegründete Panikmache. Das hat mich nie gestört, denn kontroverse Texte polarisieren und irritieren die Leser. Ich habe meine Aufgabe als Autor nie darin gesehen, die Menschen zu beruhigen, sondern sie herauszufordern, die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Aber jetzt muss ich einen Preis für meine Meinungsfreiheit bezahlen, indem ich auf meine Bewegungsfreiheit verzichte oder in den Untergrund gehe und für immer schweige. Niemand konnte mir die Last dieser Entscheidung abnehmen. Ich musste dieses Paradox der Freiheit ertragen oder es auflösen.
Ich atmete tief durch und betrachtete jede Option, die sich mir bot, als wäre sie ein Freund oder ein Feind, dem ich in die Augen sehen müsste. Es gab nur drei Möglichkeiten. Entweder die Reise antreten und riskieren, nie wieder nach Hause zu kommen, oder die Reise absagen und eine Weile untertauchen, bis sich die Lage beruhigt hatte und die Geheimdienste mehr über das Netzwerk wussten, das mich töten wollte. Oder ich könnte mich öffentlich für meine Kritik am Islam entschuldigen und von nun an keine Bücher mehr über Religion veröffentlichen.