Leseprobe : Zukunftsszenarien für Deutschland

Club of Rome und Wuppertal Institut entwerfen zwei Szenarien für Deutschlands Zukunft: Mehr Ungleichheit und Krisen – oder Stabilität, Gerechtigkeit und Umwelt durch mutigen Wandel. Wie geht es weiter?

Ein scheinbar kleines Flüsschen, das im Juli 2021 unzählige Menschen das Leben kostete: die Ahr
Ein scheinbar kleines Flüsschen, das im Juli 2021 unzählige Menschen das Leben kostete: die Ahr

Foto: Thomas Lohnes/Getty Images

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Earth for All Deutschland

Earth for All Deutschland

Club of Rome (Hrsg.), Wuppertal Institut (Hrsg.)

Softcover

280 Seiten

26 €

Welche Reise unsere Leser*innen erwartet

Dieses Buch handelt von radikaler Veränderung. Denn eine tiefgehende gesellschaftliche Transformation ist angesichts der Vielzahl der globalen Krisen unumgänglich. Es geht um Möglichkeiten und Chancen, gemeinsam die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Produktions- und Konsumweisen so zu verändern, dass die Ausbeutung von Menschen und Natur gestoppt werden kann. Wir behaupten, dass es genügend wissenschaftliche Belege dafür gibt, dass dies keine unerreichbare Utopie ist, sondern eine Vision, die Realität werden kann. Sicher nicht gleich morgen, aber noch für unsere Kinder und Enkel, wenn wir uns heute energisch auf den Weg machen. Und nicht nur hier in Deutschland, sondern auch anderswo.

Die derzeitigen katastrophalen Veränderungen, die multiplen ökologischen und sozialen Krisen – allen voran die Klimakrise und die Kriege – sind menschengemacht. Daher können Menschen sie auch ändern, wenn sie den Mut und Gestaltungswillen aufbringen, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu ändern, die das lähmende Gefühl von Ohnmacht und Ausgeliefertsein immer wieder hervorrufen. Veränderungsdruck ausgesetzt zu sein, führt bei vielen Menschen zu starken Verunsicherungen, nicht selten verbunden mit Zukunftsängsten und Verzweiflung. Oder er fördert illusionäre, oft genug politisch reaktionäre Rückwärtsgewandtheit. Mut zur Veränderung dagegen kann Mehrheiten beflügeln, wenn das Ziel, eine Wohlergehensgesellschaft für alle, hinreichend klar und akzeptiert ist und die Wege dorthin gangbar und präzise ausgeschildert werden. Unser Buch liefert verschiedene Vorschläge für solche Wege.

Transformation ist notwendig und auf demokratischem Wege möglich

Die Erfahrung zeigt: Widerstände wird es vor allem bei denen geben, die umfassende Privilegien, übermäßigen Ressourcenverbrauch, unermessliches Vermögen, riesigen Reichtum und ein enormes Macht- und Manipulationspotenzial auf sich konzentrieren konnten. Aber statt sich hierdurch entmutigen zu lassen, sollte eine Grundsatzfrage gestellt und beantwortet werden, damit gesellschaftliche Transformation gelingt: Wie könnten eine Politik und ein gesellschaftlicher Dialog aussehen, der die Fürsorge für die weniger Vermögenden gemäß dem Appell Leave no one behind (Lass niemanden zurück) verbindet mit einer Strategie Tax the Rich – Take the Rich on board (Besteuere die Reichen – nimm die Reichen mit an Bord)? Können Politik und Zivilgesellschaft zum Beispiel mit der Initiative taxmenow neue Allianzen mit dem Ziel eingehen, die sozialökologische Transformation auch gegen den Lobbyismus von Reichtum und Macht durchzusetzen? Antonis Schwarz, Millionär und Vertreter von taxmenow, sagte in einem Interview: »Als Vermögender ist es auch nicht so super, auf einem Planeten zu leben, wo sozial und ökologisch alles aus den Fugen gerät.« Kann eine solch realistische Einschätzung die Basis für ein Gemeinschaftswerk werden?

Diese scheinbar utopischen Fragen im Sinne von taxmenow zu beantworten, ist mehrheitsfähig und in hohem Maße demokratiefördernd. Die Politik und wir alle müssen uns einfach mehr trauen. Gesellschaftliche Veränderung braucht Mut, um die Problemlagen offenzulegen, Wahrhaftigkeit, Zuversicht, breite gesellschaftliche Allianzen und harte wissenschaftliche Fakten. Wenn wir mit diesem Buch einige Impulse dazu beisteuern können, wären wir glücklich, denn das ist das Ziel gesellschaftlich relevanter Wissenschaft. Wir wissen, dass wir damit nur einen Stein ins Wasser werfen können, der Wellen schlägt. Aber wir hoffen, dass dadurch eine größere Welle an vertiefter Forschung weiterer wissenschaftlicher Institute und ein breiter gesellschaftlicher Dialog ausgelöst werden. Und wir wissen, dass wir mit der einen oder anderen Idee auch anecken werden. Aber wer, wenn nicht die Wissenschaft soll in einer Welt voller komplexer Problemlagen Diskussionsimpulse setzen, an denen man sich reiben kann, um dann gemeinsam zu besseren Konzepten zu kommen.

Und Problemlagen gibt es mehr als genug: »Der Klimawandel ist sichtbar, fühlbar, messbar.« Das ist die knappste Zusammenfassung eines der größten Rückversicherer der Welt. Einige Länder erleben diesen menschengemachten sogenannten Wandel der Natur bereits heute in Form von Katastrophen mit Tausenden von Opfern und Milliarden von Schäden durch Dürren, Hitzewellen, Überschwemmungen, Mangelernährung und Armut. Die Wissenschaft warnt vor noch weit schlimmeren und weltweiten Katastrophen einer sogenannten Heißzeit, wenn es bei einem »Weiter so« bleibt und der nahezu vollständige Ausstieg aus Kohle, Öl und Erdgas nicht spätestens bis 2050 erfolgt. Wer nicht absichtsvoll verschleiern möchte und wer es wissen will, für den ist zweifelsfrei feststellbar: Wir haben ein Klimawandelproblem, und zwar ein gewaltiges.

Können 150 Jahre Industriegeschichte und Kapitalismus – aufgebaut auf einer exponentiell wachsenden Nutzung von Rohstoffen wie den fossilen Energien – innerhalb der nächsten 25 Jahren überführt werden in einen derart radikalen weltweiten sozialökologischen Transformationsprozess? Ist eine nahezu vollständige weltweite Defossilisierung möglich? Die Wissenschaft sagt: prinzipiell ja. Die technischen Hauptstrategien dafür, Effizienz und Konsistenz (erneuerbare Energien), sind in ihrer enormen Vielschichtigkeit mittlerweile nicht nur bekannt, sondern auch längst in der Breite erprobt.

Was dabei zu wenig beachtet wird, ist die Tatsache, dass dieser historisch beispiellose technisch-ökonomische Umbauprozess der Wirtschaft in einer extrem ungleichen Weltgesellschaft und in vielen Ländern mit derzeit noch schroffen Gegensätzen zwischen Reich und Arm stattfinden soll. Wer die Transformation zur Wohlergehensgesellschaft anstrebt, aber die heutige Ungleichheit stillschweigend beibehalten möchte, hofft auf das Unmögliche. Eine gerechte und faire Gestaltung der Transformation erfordert mehr als die Konzentration auf die obigen technischen Hauptstrategien. Sie muss auch in kluger Weise die Frage nach Verantwortung und Begrenzung beantworten. Das gilt vor allem für diejenigen, die auf der Seite des Reichtums stehen und zu viel verbrauchen. Der materielle Fußabdruck reicher Haushalte ist weltweit mehr als 20-mal höher als der einkommensschwacher Haushalte. 10 Prozent der reichsten Weltbevölkerung verursachen fast 50 Prozent der CO2-Emissionen, 50 Prozent der Ärmsten nur knapp 10 Prozent. Insofern wird immer deutlicher: Der Klima-, Arten-, Boden-, Wasser und generelle Ökosystemschutz ist ohne den drastischen Abbau von Ungleichheit nicht zu lösen. Das ist die Kernaussage, die der Club of Rome 2022, 50 Jahre nach dem Paukenschlag von »Die Grenzen des Wachstums«, mit seiner neuen Studie »Earth4All« mindestens ebenso provozierend wie seinerzeit formuliert hat.

Dieses Zusammendenken von Gerechtigkeit und ökologischen Fragen empfanden wir, das Wissenschaftsteam hinter diesem Buch, so überzeugend belegt und in der derzeitigen politischen Situation zudem so drängend, dass wir die Kernaussagen der Studie für Deutschland mit diesem Buch überprüfen wollten. So wie es auf Initiative des Club of Rome auch in Kenia und Österreich schon erfolgt ist und in anderen Ländern geplant wird.

Transformation ist mehrheitsfähig

Das Wissen über Notwendigkeiten und Möglichkeiten allein reicht nicht aus, um dringend erforderliche Veränderungen in der Gesellschaft anzustoßen und politisch auf den Weg zu bringen. Es gilt auch herauszufinden, welche Maßnahmenpakete und Rahmensetzungen der Politik es gibt, welche Interessen der Wirtschaft, welche Machtverhältnisse, welche Umsetzungshemmnisse und welche breiten Akteursallianzen möglich sind. Gerade auch in Deutschland, wo im Grunde ein ausgeprägtes Problembewusstsein herrscht und aktuelle Befragungen belegen, dass eine breite Mehrheit weiß, dass es so nicht weitergehen kann.

Aber oft hinkt die Realpolitik hinter dem her, was mehrheitlich an Maßnahmen bereits für erforderlich gehalten wird. Eine Ende 2023 durchgeführte Befragung zeigte, welche politischen Narrative und Konzepte im aktuell stark polarisierten politischen Diskurs eine möglichst breite und stabile gesellschaftliche Allianz für eine sozial gerechte Klimapolitik erreichen und mobilisieren kann. Die Ergebnisse belegen, dass 76 Prozent wissen, dass der Klimawandel schon heute große Probleme verursacht. Ein sehr großer Anteil davon sieht auch die Notwendigkeit, dass Politik ambitionierte Klimaschutzpolitik betreiben muss. Dabei zeigt die Untersuchung, dass diese Einstellung interessanterweise weitgehend unabhängig vom verfügbaren Einkommen ist.

Aus einem geringen Einkommen folgt keineswegs, dass Menschen gegen Klimaschutz sind. Aber verständlicherweise sind ärmere Haushalte wesentlich empfindlicher, was mögliche finanzielle Belastungen durch Klimaschutzmaßnahmen angeht. Dass Reiche, wie bereits beschrieben, weit überproportional zum Klimawandel beitragen, aber nicht entsprechend zur Schadensbegrenzung herangezogen werden, verstärkt das Gefühl bei vielen: »Beim Klimaschutz geht es nicht gerecht zu – warum soll ich ihn dann unterstützen?« Das gilt nicht nur für den Klimaschutz, sondern auch für andere Umweltbelastungen.

Eine von Earth4All und der Global Commons Alliance in Auftrag gegebene und vom Institut Ipsos durchgeführte Umfrage »Earth for All 2024« zeigt eine überwältigende öffentliche Unterstützung für progressive Steuerreformen und umfassendere politische und wirtschaftliche Veränderungen zur Verringerung der Ungleichheit und Steigerung des Wohlergehens.

Die Bekämpfung des katastrophalen Klimawandels und globaler Umweltschäden wird – so viel ist sicher – tatsächlich allen Menschen lebenswichtige Vorteile bringen, wenn diese Vorteile nicht erneut ungleich verteilt werden. So sehen es viele Menschen in Deutschland und mehrheitlich auf der ganzen Welt, wie die Umfrageergebnisse zeigen.

Interessant ist dabei auch die länderspezifische Verteilung der Zustimmungswerte, denn die »vielen Vorteile« können ganz unterschiedlicher Natur sein: Klimaschutz kann in Indien tausendfaches Massensterben durch Hitzetod verhindern, weil in einer weltweiten Heißzeit mit Werten über 50 Grad Außentemperatur zu rechnen ist (ab 42 Grad droht ungeschützt akute Lebensgefahr). Das erklärt die hohen Zustimmungswerte von 73 Prozent. In Deutschland kann ein umfassender Klimaschutz zwar auch dafür sorgen, dass tödliche Starkregenereignisse wie im Ahrtal im Juli 2021 nicht zur Regel werden. Aber im Vergleich zu den Tragödien, die bei ungebremstem Klimawandel in Afrika, Asien und Südamerika zu erwarten sind, sind das relativ »geringe« Auswirkungen. Dies mag für die relativ geringen Zustimmungsrate von 54 Prozent gesorgt haben und damit für den drittletzten Rang innerhalb der G20-Länder.

Gibt es für die vergleichsweise geringen Zustimmungsraten in Deutschland sowie den relativ hohen Anteil an Menschen, die »weder zustimmen noch nicht zustimmen« (25 Prozent) weitere interessante Erklärungen? Könnte es sein, dass deutsche Durchschnittsbürger*innen den enormen wirtschaftlichen Vorteil des Klimaschutzes gerade für Deutschland noch gar nicht wahrgenommen haben, sondern dass sie Klimaschutzinvestitionen noch eher als Bedrohung empfinden und deshalb zu einer ambivalenten Bewertung kommen? Kann es sein, dass in der politischen und gesellschaftlichen Debatte ökonomische Vorleistungen deswegen abgelehnt werden, weil die Menschen vernachlässigen, dass es natürlich hinsichtlich der Kosten nicht beim Status quo bleibt, sondern dass es künftig zu höheren ökonomischen Schäden und noch höheren Anpassungskosten führt, wenn wir heute nicht investieren?

Unsere Analyse in diesem Buch wird zeigen, dass sehr viel für diese Vermutung spricht. Das führt uns zu unserer Generalthese: Die in diesem Buch vorgeschlagenen radikalen Veränderungen für Deutschland können zu einem enormen Gewinn an Lebensqualität für alle führen – eben zu einer Wohlergehensgesellschaft. Allerdings nur, wenn ein Giant Leap erfolgt, also ein großer Sprung nach vorne. Wir laden unsere Leser*innen ein, uns bei dieser Reise zum »Giant Leap« zu begleiten. Es ist viel besser, wir verändern die Gesellschaft gemeinsam so, wie wir in Zukunft leben wollen, als dass die Verhältnisse uns Veränderungen aufzwingen.

Articles & Services

Vordenker*innen für eine nachhaltige Zukunft

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Der Club of Rome, bekannt durch den Bestseller „Die Grenzen des Wachstums“, vereint Experten aus über 30 Ländern. Seit 1968 prägt er den Diskurs zu Klimawandel, Ungleichheit und einer nachhaltigen Zukunft

Klimakrise im Fokus: Stimmen und Perspektiven

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„Im größten Fall seiner Geschichte hört der Internationale Gerichtshof Stellungnahmen von fast 100 Ländern zum Klimawandel an. Damit könnten die völkerrechtlichen Pflichten der Staaten für Klimaschutz verstärkt werden.“

Motivierender Leitfaden

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Stimmen aus dem Netz: „Das Buch handle »von radikaler Veränderung«, heißt es zu Beginn. Das sei keine unerreichbare Utopie, sondern eine Vision. Bei der Energiewende liege die Herausforderung allerdings bis zur Jahrhundertmitte noch vor uns.“

Earth for All Deutschland | Trailer

In ihrem neuen gemeinsamen Buch skizzieren der weltweit bekannte Thinktank Club of Rome und das renommierte Wuppertal Institut zwei mögliche Zukunftsszenarien für Deutschland

Earth for All Deutschland | Empowermentwende

Jacqueline Klingen, Researcherin am Wuppertal Institut, gibt einen Überblick zur Empowermentwende und stellt drei Lösungswege vor: 1. Weibliche Selbstwirksamkeit stärken, 2. Funktionierendes Sorgesystem, 3. Transformation des Bildungssystems

Earth for All Deutschland | Armutswende

Oliver Wagner, Co-Leiter des Forschungsbereichs Energiepolitik am Wuppertal Institut, gibt einen Überblick zur Armutswende und stellt Lösungswege vor: 1. Wohlstand global gerecht verteilen, 2. Teilhabe für alle, 3. Kommunale Infrastrukturen stärken

Earth for All Deutschl. | Ungleichheitswende

Hans Haake, Senior Researcher am Wuppertal Institut, gibt einen Überblick zur Ungleichheitswende und stellt drei Lösungswege vor: 1. Reiche stärker besteuern, 2. „Klimageld Plus“, 3. Gleichheitsfördernde Wirtschaftsformen