Leseprobe : 1945: Ein Sommer, der die Welt veränderte

Am 8. Mai 2025 jähren sich das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und damit der Tag der Befreiung vomNationalsozialismus zum 80. Mal. Zu diesem großen historischen Ereignis erscheint das neue Buch von OliverHilmes, »Ein Ende und ein Anfang«

Eine deutsche Frau verbindet einem jungen Soldaten der Wehrmacht die verletzte Hand
Eine deutsche Frau verbindet einem jungen Soldaten der Wehrmacht die verletzte Hand

Foto: Fred Ramage/Keystone/Hulton Archive/Getty Images

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Ein Ende und ein Anfang

Ein Ende und ein Anfang

Oliver Hilmes

Hardcover, gebunden

288 Seiten

25 €

In Kooperation mit Penguin Random House

Ein Ende und ein Anfang

Mai 1945 – Am Abgrund

Als Harry am späten Vormittag des 7. Mai 1945 durch die Flure seines neuen Zuhauses geht, beschleicht ihn das Gefühl, auf hoher See zu sein. Der Fußboden knarrt unter seinen Schritten und scheint in Bewegung zu geraten wie das Deck eines wogenden Schiffs. Halbtonnenschwere Kronleuchter schwanken plötzlich, und die Kristallgläser auf den Tischen klirren gegeneinander. Immer wieder bewegen sich auch die schweren Vorhänge wie von Geisterhand, während aus den alten Mauern ein geheimnisvolles Ächzen dringt. Man könnte meinen, dass Harry sich das alles nur einbildet, dass er vielleicht überspannt ist oder einfach nur zu viel Fantasie besitzt. Doch seine Wahrnehmungen sind echt: Das neue Domizil ist eine Bruchbude und bedarf dringend der Renovierung. Die Rede ist vom Weißen Haus in Washington.

Harry S. Truman hatte bei der Präsidentschaftswahl im November 1944 für die Demokratische Partei als Vizepräsident an der Seite des Amtsinhabers Franklin D. Roosevelt kandidiert. Für Roosevelt war es tatsächlich schon die vierte Kandidatur, und auch diesmal gewann er die Abstimmung. Als er jedoch wenige Monate später – am 12. April 1945 – überraschend starb, musste Truman selbst das Amt übernehmen. »Das Weiße Haus sah von außen prächtig aus«, wird sich Trumans einundzwanzig Jahre alte Tochter Margaret erinnern. »Aber die Privaträume waren damals alles andere als komfortabel. Es war nicht anders, als wenn man in eine möblierte Wohnung einzog, in der seit zwanzig oder dreißig Jahren keine neuen Möbel oder Geräte gekauft worden waren. Die Einrichtung sah aus, als käme sie aus einer drittklassigen Pension. Einiges davon war buchstäblich morsch.« Roosevelts Witwe Eleanor versicherte den neuen Bewohnern, dass der alte Kasten viel besser aussehen werde, sobald frische Farbe an den Wänden sei. [...] Am 7. Mai sind die Arbeiten beendet, und die Trumans beziehen noch am gleichen Tag ihre Wohnung im Weißen Haus.

Während die Möbelpacker Hunderte Umzugskisten in das Gebäude schleppen und Margaret Trumans Konzertflügel an einem Kran baumelnd in den ersten Stock gehievt wird, erfährt der Präsident von General Dwight D. Eisenhower, dem Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Nordwesteuropa, dass Generaloberst Alfred Jodl wenige Stunden zuvor in Eisenhowers Hauptquartier im französischen Reims die deutsche Kapitulation erklärt hat. Da die Wehrmachtsführung laut Jodl aber etwas Zeit benötigte, um den Befehl zur Aufgabe bis in die untersten Gliederungen durchzureichen, einigte man sich darauf, die Kapitulation erst am nächsten Tag in Kraft zu setzen. Mit der Gewissheit, dass der Zweite Weltkrieg in Europa nach fünf Jahren, acht Monaten und sieben Tagen beendet ist, verbringt Harry S. Truman die erste Nacht im Weißen Haus.

Am nächsten Morgen werden bereits für neun Uhr eine Pressekonferenz sowie eine Radioansprache angekündigt. Der Präsident habe der Nation etwas Wichtiges mitzuteilen. Entsprechend groß ist das Gedränge, als Pressesprecher Jonathan W. Daniels die Reporter gegen 8.35 Uhr ins Oval Office führt. Anwesend sind auch Bess und Margaret Truman, das Kabinett, hohe amerikanische und britische Militärs sowie hochrangige Mitglieder des Kongresses. Sie alle sitzen auf Stühlen rund um den Schreibtisch des Präsidenten. Die Journalisten müssen derweil stehen, wobei es inzwischen so voll ist, dass man wohl in Ohnmacht fallen könnte und trotzdem aufrecht stehen bliebe. Truman lässt die Anwesenden zu Beginn wissen, dass er eine Erklärung verlesen werde, die noch bis neun Uhr streng vertraulich sei. Die Nachricht sei aber so kurz, dass die Vertreter der Presse danach genug Zeit hätten, ihre Meldungen zu schreiben. Die Reporter lachen. Truman scherzt, dass dies ein ganz besonderer Tag sei, denn er habe zudem Geburtstag. Er wird einundsechzig Jahre alt. »Happy Birthday, Mister President!«, ruft jemand im Saal.

Dann ist es neun Uhr, und Truman beginnt mit seiner Ansprache: »Eine feierliche und glorreiche Stunde ist angebrochen. Ich wünschte nur, Präsident Franklin D. Roosevelt hätte diesen Tag erlebt. Von General Eisenhower ist die Meldung eingegangen, dass sich die deutschen Streitkräfte den vereinten Nationen ergeben haben. Über ganz Europa wehen die Banner der Freiheit.« Truman weist darauf hin, dass der Zweite Weltkrieg noch nicht überall zu Ende sei, da Japan und die USA noch immer in einen schrecklichen Krieg im Pazifik verwickelt seien. Er warnt die Japaner, dass die gesamte amerikanische Militärmaschinerie nun gegen Präsident Harry S. Truman bereitet sich auf seine Rundfunkansprache vor, in der er nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa verkündet. »Eine feierliche und glorreiche Stunde ist angebrochen.«sie gerichtet sein werde. Man habe erst die Hälfte des Kriegs hinter sich. Nach wenigen Minuten ist die Pressekonferenz beendet.

Während Harry S. Truman nun weitere Glückwünsche entgegennimmt [...], beginnen sich in New York bereits zahllose Menschen am Times Square zu versammeln, und Zehntausende marschieren in den nächsten Stunden die Fifth Avenue hinunter, während Konfetti auf sie herabregnet. Alles in allem sind gut 500 000 Menschen auf den Beinen. Es ist die mit Abstand größte Feier zum »Victory Day« in den USA. Doch schon am Abend kehrt die Stadt zu ihrer üblichen Betriebsamkeit zurück. »Die Nachricht hatte gestern Abend kaum Auswirkungen auf die Theaterkassen«, weiß die New York Times am nächsten Tag zu berichten. »Die Ticketverkäufer sagten, dass sie einige Stornierungen von Reservierungen zu verzeichnen hatten, aber diese Plätze wurden sogleich von eifrigen Käufern ergattert.«

*

Wie lange hat Alfred Döblin auf diesen Tag gewartet! Und wie oft hat er sich das Ereignis in Gedanken ausgemalt? Dass die Erde sich öffnet, ein gigantischer Schlund entsteht und Adolf Hitler geradewegs zur Hölle fährt! Zwanzig Mal? Dreißig Mal? Oder noch häufiger? Döblin weiß es nicht. »Dass diese Bestie endlich daliegt, gut«, schreibt er Anfang Mai Freunden, »aber was hat sie angerichtet.« Rund sechzig Millionen Menschen sind gestorben, Soldaten wie Zivilisten. Neun Millionen Männer, Frauen und Kinder sind in den Konzentrations- und Vernichtungslagern ermordet worden, darunter sechs Millionen Juden. Weite Teile des europäischen Kontinents sind verwüstet, Deutschlands Städte gleichen Ruinenlandschaften. In Los Angeles, wohin der Schriftsteller fünf Jahre zuvor emigriert war, notiert er: »Vielleicht ist in einigen Monaten das Exil zu Ende, – und was kommt nachher? Das Leben eine Serie von Abenteuern.«

*

Gut eine Woche nach Adolf Hitlers Selbstmord im Bunker der Reichskanzlei schwirren abenteuerliche Gerüchte durch Berlin. »Hitler sei in Japan, Spanien, sei in der Nähe von Hamburg gefallen, habe sich erschossen, sei im Kampf um die Reichskanzlei gefallen«, grübelt Else Tietze in ihrem Tagebuch. Eigentlich heißt sie Elisabeth Anna Henriette, doch solange sie denken kann, nennen sie alle nur Else. Sie weiß nicht recht, was sie von dem Gerede halten soll. »Wenn Gott ihn einen Soldatentod hätte sterben lassen, hätte er es sehr gut mit ihm gemacht. Dass der Mann Gutes wollte, glaube ich noch immer, aber er muss zuletzt wohl wahnsinnig gewesen sein.« Eine echte Nationalsozialistin sei sie ja nie gewesen, beteuert Frau Tietze, doch die Russen seien nun mal die Feinde. Wenn sie aber jetzt durch die Straßen der Reichshauptstadt geht, kommen ihr immer mehr Zweifel an Hitler. »Man hat fast das Gefühl, dass Hitler den Feinden nur ein ganz zerstörtes Berlin hinterlassen wollte und an die armen, unglücklichen Menschen gar nicht gedacht hat.« [...].

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