In Kooperation mit Verlag Klaus Wagenbach

Leseprobe

Im Winter 1942/43 flohen italienische Soldaten in Schuhen mit Pappsohlen vor der Roten Armee, Zehntausende erfroren. Dies hat sich als Trauma im kollektiven Gedächtnis Italiens eingebrannt – auch in der Familie Melandri. Der Vater hat ihn überlebt

Die Front in Russland im Zweiten Weltkrieg, 1941
Die Front in Russland im Zweiten Weltkrieg, 1941

Foto: Three Lions/Getty Images

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Kalte Füße

Kalte Füße

Francesca Melandri

Hardcover

288 Seiten

24 €

In Kooperation mit Verlag Klaus Wagenbach

Kalte Füße

Zwei, nur zwei Episoden deines Krieges waren es wert, in die epischen Dichtungen der Familien aufgenommen zu werden.

Die erste trägt den Titel »Die Hühner von Kalitwa« und spielt am großen Bogen des Don. Dabei handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Flussbiegung, die etwas weiter war. »Der groooße Bogen des Don«, sagtest du mit einem langgezogenen »o«, das wie ein mächtiger Strom zwischen den Ufern der Konsonanten dahinfloss: groooßer. Diese fünf Wörter beschworen einen Ort voller Wunder und Legenden, wie der Beginn eines Märchens: Es war einmal mein Vater am groooßen Bogen des Don. Er war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte ein Dutzend Männer der italienischen Gebirgsjäger unter seinem Kommando. Er hatte kalte Füße und sorgte sich um die kalten Füße seiner Alpini.

Soldat Kurk, die Hühner-Soldaten, so nannten die sowjetischen Soldaten die Männer der 8.Italienischen Armee, der sogenannten ­ARMIR, Armata Italiana in Russia, mit ihren Federn auf den Helmen, die aus Alpini und Bersaglieri bestand. In Wirklichkeit befanden sich die Bersaglieri in einem völlig anderen Frontabschnitt als eure ­Division Julia, und hier waren deine Beschreibungen wie so häufig bemerkenswert ungenau. Doch mir war das egal, solange du bei mir oder meiner Schwester auf dem Bettrand gesessen und erzählt hast. Im Zimmer war es dunkel, nur aus dem Flur fiel ein schmaler Lichtspalt durch die angelehnte Tür, und du erzähltest leise, wie sich die Nacht geheimnisvoll und unerbittlich auf die schneebedeckte Steppe herabsenkte, während ihr, du und deine Alpini, euch langsam aus den Schützengräben herauswagtet …

Das war immer der spannendste Moment der Geschichte, denn dann hast du die Hände vor dem Mund zusammengelegt, den Kopf nach hinten geworfen und ausgestoßen:

»A-uuuuuh!«

Ein melancholisches Heulen, bedrohlich und wild.

Und vor allem verblüffend real, da war ich mir ganz sicher, obwohl ich noch nie einen echten Wolf hatte heulen hören.

Dann verwandelte sich die Zimmerdecke unserer römischen Wohnung in den glasklaren Himmel sibirischer Nächte, und in meinem Bett jagten mir die Lust und die Angst einen magisch kalten Schauer über den Rücken.

Am anderen Flussufer, so hast du deine Erzählung fortgesetzt, standen die Soldaten der Roten Armee, zwanzigmal so viele wie ihr, die armen, wehrlosen Alpini mit eurer schlechten Ausrüstung. Ein Angriff wäre verheerend gewesen. Das wusste ihr Kommandeur sehr genau, Generalleutnant Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, er hätte seine Soldaten gerne auf euch losgelassen. Doch seine Männer stammten – und keiner weiß, woher du das als blutjunger faschistischer Leutnant wusstest, jedenfalls wusstest du es –, aus Burjatien, Jakutien und Tuwa, von den äußersten Rändern Sibiriens. Und mit der Sicherheit eines Anthropologen des 19.Jahrhunderts wusstest du auch, dass diese Leute große Angst vor Wölfen hatten. Größere Angst als vor den Geschützen, hast du hinzugesetzt, vor dem Maschinengewehrfeuer und sehr viel größer als vor den Hühner-Soldaten. Und wirklich, wenn die Sowjets das Geheule hörten, erstarrten sie. Viele Nächte lang habt ihr durchgeheult, und die sibirischen Soldaten ließen euch in ihrem heidnischen Entsetzen in Ruhe.

Es war eine aberwitzige, nicht besonders glaubhafte Geschichte, die vor der Gegenoffensive der Roten Armee abbrach, die natürlich – Wölfe hin oder her – irgendwann kam. Das hast du nicht erzählt. Es wäre wohl auch naiv, von Kriegsheimkehrern wahre und vollständige Geschichten zu erwarten. Man käme ja auch nie auf die Idee, Odysseus zu fragen, wie er sich als ausgewachsener, stattlicher Mann unter dem Bauch eines Schafs hatte verstecken können. Am Ende zählt nur, dass er wieder da ist. Dass Polyphem ihn nicht verschlungen hat.

Und wenn du bei mir auf dem Bettrand gesessen hast, war klar, dass du den Krieg beziehungsweise den Zyklopen überlebt hattest. Das genügte mir.

Im eigentlichen Mittelpunkt der ehrwürdigen, innerfamiliären Saga »Papa in Russland« steht aber eine andere Episode. Sie heißt »Die Geschichte der Walenki«.

Dies ist ihre offizielle Version:

Auch die Wolfs-Hühner hatten die sowjetische Gegenoffensive nicht aufhalten können, und so ist nun die gesamte italienische Armee versprengt. Man muss sich die Bildfläche wie leergefegt vorstellen. Keine Kolonnen zerlumpter, notdürftig in Decken und Mäntel gehüllter Soldaten, wie wir sie von den Fotos des Rückzugs aus Russland kennen, der in Wahrheit größtenteils ein Rückzug aus der Ukraine war. Nur du und deine armen Alpini sind zu sehen, ihr lauft durch die eisige Steppe. Allein, im blendenden Weiß, ohne Essen und Munition. Wenn ihr einem Trupp Sowjet-Soldaten oder schlimmer noch Partisanen begegnet, ist es aus mit euch. Ihr seid trunken vor Müdigkeit und habt vor allem kalte Füße. Eiskalte Füße. Erfrorene Füße. Nichts an der Kleidung der ARMIR eignet sich für einen Feldzug in Russland, doch über die Stiefel wirst du später einmal schreiben: Das ist kein Schuhwerk, das ist ein Verbrechen.

Ihr lauft und lauft durch den Schnee wie in einem Gruselmärchen. Manchmal stolpert einer deiner Männer und fällt hin, die anderen helfen ihm wieder auf. Wie lange noch?, fragst du dich. Wann passiert das Unsagbare, dass ein Alpino zu Boden sinkt und seine Kameraden genau wie du so am Ende ihrer Kräfte sind, dass sie ihn einfach liegen lassen? Einige der Männer könnten deine Onkel sein, manche sind doppelt so alt wie du. Doch du bist ihr Offizier. Du hast ihnen und mehr noch dir selbst geschworen, sie nach Hause zu bringen. Du wünschst dir nichts sehnlicher, als dass ihre Frauen nicht zu Witwen werden wie die Frau deines Adjutanten. Da taucht ein Gebäude auf, genauer gesagt: ein Lagerhaus. Wie sieht es aus? An diesem Punkt deiner Erzählung stellte ich mir immer einen Würfel aus billigem Metall vor, das war für mich ein Lagerhaus: wie in einem Gewerbegebiet außerhalb von Rom. Natürlich stimmte das nicht, aber ich erinnere mich nicht an deine Beschreibungen. Ganz sicher war es keine Isba, wo allein der schöne Klang des Wortes schon Wärme und Gastfreundschaft ausstrahlt und mich an die Almhütten in den Dolomiten erinnerte, nur eben versetzt in die weiße Ebene Russlands und bewohnt von blonden Frauen mit geblümten Kopftüchern. Das Lagerhaus jedenfalls, das ihr dort in der Ferne seht, ob aus Blech oder nicht, ist ganz sicher keine Isba.

Vorsichtig schleicht ihr euch an.

Die Steppe ist menschenleer, und das Lager auch.

Geheimnisvollerweise, wundersamerweise ist die Tür nur angelehnt. Ihr öffnet sie und schaut hinein. Unvorstellbare Reichtümer offenbaren sich euren Blicken: Essen, Munition, Ausrüstung. Eine wahre Schatzkammer, und der sowjetische Drache, der sie bewacht, ist nicht da oder schläft. Ungläubig über so viel Glück betretet ihr den Raum.

Die Munition lasst ihr links liegen. Wenn der Feind euch überraschen sollte, fegt er euch in eurem erbärmlichen Zustand ohnedies hinfort. In der Standardversion der Geschichte beißt ihr in ein paar Würste, in einer anderen Variante lasst ihr Kartoffeln mitgehen. An dieser Stelle frage ich mich immer: Wie sollen sie denn rohe Kartoffeln essen? Oder wolltet ihr die unterwegs kochen? Aber ich habe eben keine Ahnung vom Krieg.

Dann endlich entdeckt ihr den größten Schatz in dieser Wunderhöhle: Walenki! Diese weichen und warmen Filzstiefel, die ihr an den Füßen der russischen Bauern gesehen habt, die in Wahrheit ukrainische Bauern waren, und um die ihr sie so beneidet habt. Ihr vergesst alles andere – Würste, Kartoffeln, die nicht angerührte Munition – und lauft zu den Regalen mit den Schuhen. Ihr zieht Mussolinis verbrecherische Schuhe aus, vielleicht werft ihr sie sogar wütend in die Ecke, wie es auch die verdient hätten, die sie euch gegeben haben, und schlüpft in die Walenki.

Dank der Walenki werden eure Zehen nicht erfrieren und ebenso wenig eure Fersen, was noch schlimmer ist. Dank dieses unbeschreiblichen Schatzes aus Filz müsst ihr nicht mit lahmen Füßen und ohnmächtig in den Schnee sinken und auf den Tod warten, während die erschöpften Kameraden sich weiterschleppen und euren letzten Blicken ausweichen.

Ihr seid gerettet.

Ich erinnere mich noch gut an diesen Punkt der Geschichte. In deinen Augen das verschmitzte Aufblitzen des Unterlegenen, der es den Großen zeigt. David, der Goliath besiegt. Jerry, der Tom an der Nase herumführt. Du und deine armen Alpini, ihr wart die Kleinen, die die Rote Armee austricksen. Mehr noch, den General Winter, der einen von den Füßen aus ganz langsam tötet, ja der selbst Napoleon besiegt hat – aber euch nicht. Dich nicht.

Im Sprachgebrauch unserer Familie standen die Walenki für weit mehr als nur für Schuhe. Sie waren ein Synonym für Überleben, für Glück und für Heimkehr. Das genaue Gegenteil von Krieg, könnte man sagen. Was ist das Gegenteil von einem lauten, harten und tod­bringenden Panzer? Antwort: die weichen, leisen Schritte von zwei warmen Füßen in Walenki. Sie sind das Leben, das den Tod besiegt, der einfache Wollfilz, der über die Waffen triumphiert.

Dank der Walenki konnten du und deine armen Alpini nach Hause zurückkehren.

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Biografie der Autorin

Biografie der Autorin

Francesca Melandris »Kalte Füße« ist ein berührendes Zwiegespräch mit einem geliebten Menschen: ein unerschrockenes Buch über das, was der Krieg gestern wie heute in Körpern und Köpfen anrichtet. Eine kurze Vorstellung der Autorin

Rezensionen

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