Leseprobe : Gaza zwischen Besatzung, Blockade und Krieg

Der Band beleuchtet Entwicklung und Verankerung der Hamas sowie die Rolle, die Israel bei deren Entstehung spielte. Johannes Zang befasst sich mit dem Massaker vom 7. Oktober 2023 – der Vorgeschichte, den ignorierten Warnungen und dem folgenden Krieg

Ein Hamas-Mitglied patrouilliert in Gaza Stadt
Ein Hamas-Mitglied patrouilliert in Gaza Stadt

Foto: IMAGO / UIG

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Kein Land in Sicht?

Kein Land in Sicht?

Johannes Zang

Taschenbuch

279 Seiten

19,90 €

In Kooperation mit Papyrossa Verlag

Kein Land in Sicht?

Nachwort

»Die kommenden Generationen werden wissen, dass wir diese menschliche Tragödie über soziale Medien und Nachrichtenkanäle mitverfolgt haben. Wir werden nicht sagen können, wir hätten es nicht gewusst. Die Geschichte wird fragen, warum die Welt nicht den Mut hatte, entschlossen zu handeln und diese Hölle auf Erden zu beenden.«517
– Philippe Lazzarini/UNRWA

Als ich 2006518 den Direktor des palästinensischen Menschenrechtszentrums PCHR, Raji Sourani (selbst schon Häftling und Folteropfer in Israel), zur israelischen Militäroperation Sommerregen in Gaza-Stadt befragte, sagte er: »Wir sehen hier das Gesetz des Dschungels. Es wird von den Regierungen der Vereinigten Staaten und von Europa vollkommen unterstützt. Zum ersten Mal wird ein Krieg gegen eine gänzlich zivile Bevölkerung geführt. Dagegen tut niemand etwas. Das ist traurig. Das ist schlimm. Nicht für mich als Araber oder Palästinenser, sondern weil ich Mensch bin. Ich bin völlig entsetzt. Wir fordern etwas Einfaches: die Herrschaft des Gesetzes, nicht die des Dschungels. Nichts von der 4. Genfer Konvention ist übrig geblieben, was nicht von Israel gebrochen wurde. Haben Menschenrechte, internationales humanitäres Recht, Genfer Konventionen noch irgendeine Bedeutung?« Dann warnte er vor den Folgen, die US-amerikanische und europäische Unterstützung Israels samt »grünem Licht für ihre Kriegsverbrechen« zeitigen könnte: »Damit ladet ihr Bin Laden ein.« Also quasi eine Einladung für radikalste Terroristen.

Auf andere Weise hat sich seine Prophezeiung brutalst am 7. Oktober 2023 bewahrheitet.

Mein Entsetzen über das Massaker, das die Hamas an diesem Tag verübte (und das Friedensaktivisten beider Seiten das Leben kostete), mündete nach wenigen Tagen in Wut: Wut über das Versagen der internationalen, auch deutschen Politik; über das anhaltende Schweigen zu einer mittlerweile über 50-jährigen Besatzung; über die Feigheit vor dem Freund.

Wurden die Berichte und Analysen der Friedens- und Menschenrechts-NGOs in Tel Aviv, Ramallah, Jerusalem oder Gaza-Stadt, die teilweise mit kirchlichen, deutschen oder EU-Geldern finanziert wurden, in Berlin, Brüssel und Washington überhaupt zur Kenntnis genommen?

Wirken sich die Erfahrungen und Einschätzungen der eigenen, dorthin entsandten Friedensfachkräfte (forumZFD, KURVE Wustrow etc.) auf die Außenpolitik aus? Warum haben Politiker, außer dass sie gelegentlich Bedenken äußerten oder vorsichtig zur Einstellung der Gewalt aufriefen, nichts, aber auch gar nichts unternommen, um Israel und Palästina in Richtung Zwei-Staaten-Lösung zu drängen? Und nachdrücklich von Israel ein Ende der Besatzung zu fordern? Wovor hat man in Berlin, Brüssel, Washington Angst?

Ein Beispiel für zahn- und folgenlose Außenpolitik: »Die Erteilung von Baugenehmigungen für 181 neue Wohneinheiten in der israelischen Siedlung Gilo in Ostjerusalem erfüllt uns mit großer Sorge.«519 Das hat Israel nicht vom Bauen abgehalten.

Seit mindestens 15 Jahren haben mir Friedens- und Menschenrechtsaktivisten in Israel als markanten Satz mitgegeben, sie wünschten sich »rote Linien« für ihre Regierung, die wie betrunken auf den Abgrund zurase. »Lässt man einen Freund betrunken Auto fahren?«, fragte mich einmal eine Gesprächspartnerin und meinte, Bundeskanzlerin Merkel handle genau so. Mancher von mir Interviewte forderte gar Sanktionen.

Die Warnungen standen in dicksten Lettern auf der Mauer. Mindestens seit der zweiten Intifada. Seitdem sind Tausende, wenn nicht Zehntausende an Artikeln, Reportagen, Analysen, Petitionen und Kommentaren erschienen, viele gipfeln in der Warnung: Solange Palästinenser nicht frei, selbstbestimmt und in Würde leben dürfen, solange wird Israel keine Sicherheit bekommen. Daher: Helft, die Militärbesatzung zu beenden!

Statt auf deren Ende hinzuarbeiten, haben Deutschland, Frankreich, Großbritannien und die USA, ja die ganze Staatengemeinschaft – zumindest die westliche –, durch ihr Schweigen und Wegsehen Israel nachgerade ermuntert, den Weg der Kolonisierung, Enteignung und Unterdrückung fortzusetzen. Straflosigkeit war sozusagen garantiert.

Wir alle haben uns letztlich mundtot machen lassen. Vor allem Deutschland, aber auch andere Staaten, haben so agiert oder eben nicht agiert, als hätten sie wegen der Shoa, wegen Scham und Schuld, doppelte Samthandschuhe angelegt. Diese vom Westen bewusst oder unbewusst verinnerlichte Prämisse, hat ein Israeli einmal so beschrieben: Sein Land komme ihm vor »wie ein randalierender Jugendlicher, dem niemand von außen eine Grenze setzt, weil er eine sehr schwere Kindheit gehabt hat.«520

Diese Haltung hat die Autonomiebehörde um Mahmoud Abbas und das gesamte palästinensische wie auch das israelische Friedenslager nachhaltig geschwächt und damit zugleich die Rolle der Hamas gestärkt. Als diese 2006 die Wahlen gewann, hat der Westen sogleich Forderungen an sie gestellt und die Hamas-Regierung sanktioniert, anstatt auf allseitige Verhandlungen um die Zukunft Gazas zu setzen. Der israelische Friedensblock Gush Shalom hat das mantraartig kritisiert, einmal, 2007, mit diesen Worten:

Wir haben Gaza isoliert.

Wir haben Gaza ausgehungert.

Wir haben Hunderte von Millionen [US-Dollar, J.Z.], die ihnen gehören, enteignet.

Wir haben die Welt überzeugt, eine Blockade gegen sie zu verhängen.

Wir haben Mahmoud Abbas gedemütigt.

Wir haben Hamas boykottiert.

Wir haben sie in einen Bruderkrieg gedrängt.

Nun herrscht dort Anarchie.

Den Preis dafür bezahlt: Sderot.521

Sderot, eine israelische Kleinstadt unweit des Gazastreifens, bezahlte mit Tausenden von Raketen und Mörsern und ebenso vielen traumatisierten Einwohnern. Ab 2011 wurde es für die Einwohner von Stadt und Umland ruhiger. Das Abfangsystem Iron Dome fing fortan 90 Prozent der Geschosse ab.522 Hinzu kam, dass die Hamas Waffenruhen meist einhielt.

Zwei Zitate belegen das direkt oder indirekt. »Sie kann sehr diszipliniert sein«, sagte mir der israelische Journalist Danny Rubinstein über die Hamas und deren Einhalten einer Waffenruhe. Und ein Arte-Film nennt die Hamas gar Israels »besten Feind.« Für das Ziel, »in Sicherheit zu leben, ohne die besetzten Gebiete zurückzugeben«, habe Israel »in der Hamas früher einen Verbündeten«523 gesehen.

Fünf Wochen vor dem Massaker am 7. Oktober 2023 machte der bereits erwähnte Gershon Baskin in seinem Text »Die Zukunft der Hamas«524 wieder einmal einen Briefwechsel zwischen ihm und einem Hamas-Führer publik und unterbreitete einen Vorschlag zur Annäherung: Vollkommene Waffenruhe im Gazastreifen, im Westjordanland und in Ostjerusalem für fünf Jahre. Im Gegenzug hebt Israel die Blockade auf; stellt alle Siedlungsaktivitäten ein (»die Mehrheit der Israelis befürwortet das«); erlaubt Palästinensern das Reisen zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen; lässt die Einfuhr von Waren in den Gazastreifen nach notwendiger Sicherheitsprüfung zu; erlaubt palästinensische Wahlen in allen besetzten Gebieten, auch in Ostjerusalem, und erkennt das Wahlergebnis an; entfernt alle internen Kontrollpunkte im Westjordanland und »erlaubt Menschen aus dem Gazastreifen das Gebet in der Al-Aksa-Moschee« in Jerusalem. Darin sah Baskin, der seit Jahren mit unterschiedlichen Hamas-Führern die Möglichkeit eines langfristigen Waffenstillstands (Hudna) erörtert hat, einen Türöffner für das, was im Gazastreifen am meisten fehlt: »Hoffnung.«

36 Tage später gewannen völlig entgegengesetzte Begriffe die Oberhand in Israel/Palästina: Terror und Todesangst, Wut und Rachegelüste, Entsetzen und Verzweiflung, Trauer und Niedergeschlagenheit – und mit jedem weiteren Tag: Hoffnungslosigkeit.

Die Welt teilte sich schnell in zwei Lager: Pro-Palästina oder Pro-Israel. Und ich fragte mich: Wo ist das Menschenrechtslager? Das der Kriegsgegner? Das derjenigen, die die Fahne des Dialogs, des Friedens und der Versöhnung hochhalten?

Da waren deutsche Politiker und die meisten Medien schon längst ins Pro-Israel-Lager geeilt und schienen in einen Wettstreit einzutreten: Wer befürwortet deutlicher den israelischen Krieg, wer ist der hartnäckigste Antisemitismus-Jäger, wer der größte Philosemit? Sogenannten Pro-Palästina-Demonstranten wurde in vereinfachendster, ja ehrabschneidender Weise unterstellt, sie seien auf Seiten der Hamas und damit des Terrors. Dabei verlangte die Mehrzahl einfach ein Ende des Tötens, der Blockade, der Besatzung. Talkshow nach Talkshow nahm sich des Themenkreises Israel-Palästina-­Hamas-Antisemitismus-Hass/Hetze an. Zeitschriften veröffentlichten Sondernummern. Sender interviewten immer wieder israelische oder deutsch-jüdische Stimmen. Und ich fragte mich: Warum wird keine Amira Hass eingeladen? Wo sind Judith Bernstein oder Nirit Sommerfeld? Keine Bettina Marx, die Autorin eines Gaza-Buches?

Judith Bernstein, in Jerusalem geboren, in München lebend, hatte schon im November 2023 an das Auswärtige Amt voller Sorge geschrieben: »Leider gewinne ich den Eindruck, dass man in Deutschland die Situation nicht richtig einschätzt. Wir stehen vor einer schrecklichen Katastrophe, die wirklich zu einem 3. Weltkrieg führen kann. Die Reaktionen in der gesamten muslimischen Welt und auch bei uns sehen wir schon jetzt. Israel hätte einen ganz anderen Weg gehen können.«525 Sie verweist per Link auf einen früheren Beitrag, in dem sie die Frage stellt: »Was heißt Solidarität mit Israel – mit welchem Israel? Das Israel von Netanjahu, das mit den Siedlern in der Westbank das vollendet, was 1948 begann: die Säuberung der palästinensischen Gebiete, oder [das Israel] mit den Friedensgruppen?«

Dann fragt die Jüdin: »Warum findet bei uns kein Umdenken statt? Ich höre schon jetzt Stimmen, die warnen vor einer neuen Fluchtkatastrophe aus dem Gazastreifen« Abschließend warnt sie: »Netanjahu und seine rechte Regierung gefährden nicht nur die eigene Bevölkerung, sondern auch die Juden weltweit.«

Genau wie sie habe ich eine andere deutsch-jüdische Stimme in Radio und Fernsehen vermisst: die von Nirit Sommerfeld. Wenigstens in der Berliner Zeitung erhielt sie eine Plattform. »Die allermeisten Israelis wissen nicht, was in Gaza derzeit wirklich passiert«,526 teilt die Schauspielerin und Sängerin dem deutschen Publikum mit. Anschließend verdeutlicht sie, welches Bild vom »Araber« in Israel den Kindern von klein auf vermittelt werde: das eines ungebildeten, rachsüchtigen, hasserfüllten Aggressors. Von Palästinensern sei in Israel übrigens nie die Rede. »Dabei haben alle israelischen Regierungen immer dafür gesorgt, dass zwei Grundsätze im israelischen Bewusstsein manifestiert wurden – erstens: Wir sind immer die Opfer, die angegriffen werden. Und zweitens: Es gibt weder einen historischen Kontext noch jedwede Rechtfertigung für Gewaltausbrüche; sie werden ausschließlich aus Hass gegen uns entfacht.« Viele Israelis hätten »die Fähigkeit verloren, Palästinenser als menschliche Wesen zu betrachten. Wer von Opfern auf der anderen Seite spricht, ist ein Verräter, so wie der Lehrer Meir Baruchin, der seinen Job verlor, inhaftiert wurde und Morddrohungen bekommt.«

Solche Stimmen sind offenbar in deutschen Talkshows nicht erwünscht. Wie sonst lässt es sich erklären, dass wir immer die gleichen Gesichter sehen: Gerhart Baum, Roderich Kiesewetter, Omid Nouripour, Ahmad Mansour, Kevin Kühnert oder Frau Strack-­Zimmermann, um nur eine kleine Auswahl zu nennen. Dem Publikum wird vorenthalten, ob sich die Gesprächspartner jemals in Israel/Palästina selbst ein Bild der Lage gemacht haben, geschweige denn, ob sie je in den abgeriegelten Gazastreifen gereist sind. Erlebt der Zuschauer Studiogäste aus Israel, sind sie meist stramm auf Regierungslinie wie Melody Sucharewicz oder der Armeesprecher Arye Sharuz Shalicar; wie wohltuend wäre da die Gegenposition eines Ex-Soldaten von Breaking the Silence.

Für die Ha’aretz-Journalistin Amira Hass, die einige Jahre in Gaza lebte, »macht Deutschland den Staat Israel zum Fetisch und unterstützt damit dessen siedlerkolonialistische Merkmale.« Das zeige sich in letzter Zeit dadurch, wie »Deutschland all die Stimmen verfolgt und zum Schweigen bringt, die den Staat Israel kritisieren, darunter sogar linke Juden und Israelis.«527 Ich ergänze: zum Schweigen bringen auch dadurch, dass ihnen gar kein Podium geboten wird.

Fabian Scheidler bringt es – wieder in der Berliner Zeitung – auf den Punkt: »Wer sich heute in Deutschland auf die UNO, das Völkerrecht und anerkannte Menschenrechtsorganisationen beruft, wird zur Persona non grata, zum Israelhasser, zum Antisemiten erklärt. Und nicht nur das: Er hat inzwischen sogar mit einem Einreise- und Betätigungsverbot zu rechnen, wie etwa der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis und der weltweit renommierte britisch-palästinensische Chirurg und Rektor der Universität Glasgow, Ghassan Abu-Sittah, der am Berliner Flughafen mehrere Stunden festgehalten und dann zurückgeschickt wurde.«528 Beide waren zu einem Palästina-Kongress im April 2024 in Berlin eingeladen; Sittah hatte im Herbst 2023 für Ärzte ohne Grenzen im Al-Schifa-Hospital in Gaza-Stadt gearbeitet. Mit Hunderten von Polizisten wurde der Kongress nach zwei Stunden aufgelöst, der Strom gekappt, 250 Teilnehmer mussten den Saal verlassen.

Träume ich? Bin ich noch in Deutschland? Passiert das gerade in einem Land, das auf der Rangliste der Reporter ohne Grenzen auf Rang 10 steht?529 Oder sollte es 110 heißen?

Ein pensionierter Richter formulierte bei der Konferenz des Bündnisses für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern (BIP) in Nürnberg im Mai 2024, just 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes, seine Sorge so: »Das Grundgesetz hat sich nicht verändert, aber die politische Diskussion, die Befindlichkeit unseres Landes hat sich gravierend verändert. Wesentliche Grundrechte werden eingeschränkt, von der Seite her, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit und das auf Versammlungsfreiheit.«530

Schon im zweiten Kriegsmonat forderte der Journalist Stephan Detjen im Deutschlandfunk eine Debatte über das Verständnis von Antisemitismus: »Unterdessen fokussiert sich die staatlich gelenkte Antisemitismusbekämpfung in Deutschland darauf, Begriffe wie ›Besatzung‹ oder ›Apartheid‹ als antisemitisch zu verdammen«,531 dabei würden diese auch von israelischen und jüdischen Wissenschaftlern immer öfter verwendet.

Zurück zum Krieg: Auf der erwähnten BIP-Konferenz 2024 lernte ich ein junges, palästinastämmiges Paar aus Norddeutschland kennen. Sie trug eine klitzekleine palästinensische Flagge an der Halskette. Im Gespräch bekannte sie, enttäuscht zu sein, von Kollegen oder Freunden nicht nach ihrem Befinden oder dem ihrer palästinensischen Verwandtschaft gefragt zu werden. Ihr Partner: »Ich habe durch die ganze Schulzeit gehört: Nie wieder Krieg!« Er ist fassungslos, dass das jetzt im Gaza-Krieg für Palästinenser nicht gilt.

Auf sie trifft zu, was das Autorenduo Pfeifer/Weipert-Fenner in einer Analyse der Heinrich-Böll-Stiftung zu »Israel-Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs« so formuliert: Es stehe jeden Tag »auf dem Spiel«, dass sich Muslime, Araber, Migranten »in unserer Mitte nicht mehr gehört und zugehörig fühlen«, weil ihnen »Teile des Staates und der Gesellschaft offen drohen, sie verwirkten ihre Schutzrechte.«532

Meine Bekannte R.S. aus dem Westjordanland hatte mir schon im Oktober 2023 ihren Text »Die Heuchelei der zweierlei Maße« geschickt. Sie, die in Deutschland studiert hat, erinnert an die Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet nach zwei Weltkriegen. In ihr wurde »detailliert verankert, wie das Leben eines jeden Menschen aussehen soll, damit Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit etc. gewährleistet sind. UND???«. Nach drei Fragezeichen fährt sie fort: »Diese Menschenrechtserklärung existiert für UNS, Palästinenser, [nur] auf dem Papier. Sie besteht immer noch. [Aber] die einen sind es wert, dass alle Paragrafen realisiert werden, für die anderen gilt nur eine eingeschränkte Version, weil sie als niedrigere Menschen betrachtet werden.« Den folgenden, sehr verschachtelten Satz habe ich geglättet, damit er verständlicher wird: »Und wenn sie sich dann Demokraten und Verfechter von Menschenrechten und Menschenwürde nennen, sind sie Heuchler.« Sie sollten sich »nochmals die Erklärung von 1948 gründlich durchlesen«, und zwar »mit Hilfe eines Wörterbuches, denn anscheinend sind ihnen viele Begriffe zu Fremdwörtern geworden!«533

Ihre Botschaft habe ich in Palästina landauf, landab vernommen. So wie R.S. empfinden in der arabischen und muslimischen Welt sehr viele. Der Ägypter Mohamed El Baradei, emeritierter Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), prognostiziert einen Bruch zwischen dieser Welt und dem Westen. Ich füge hinzu: zwischen dem Westen oder dem globalen Norden und dem globalen Süden. Folgende Worte von El Baradei kann ich unterschreiben: »Darüber hinaus hat die arabische bzw. muslimische Welt das Vertrauen in vermeintlich westliche Normen wie Völkerrecht und internationale Institutionen, Menschenrechte und demokratische Werte verloren. Ihrer Ansicht nach macht der Westen selbst vor, dass rohe Gewalt über allem steht.«534 Sein Schlusssatz: »Ohne eine radikale Reform der internationalen Ordnung wird der Gaza-Krieg Vorbote einer außer Kontrolle geratenen Welt sein.«

Ein letztes Mal zurück zum Krieg: Die israelische Journalistin Amira Hass – sie hat auch an US-Präsident Biden geschrieben – bekannte in der erwähnten BIP-Konferenz, dass es ihr »emotional« sehr schwer falle, aber sie müsse es sagen: »Israel begeht einen Genozid in Gaza.« Bedauernd erklärt sie, »Deutschland und andere europäische Staaten, die sich nach dem Holocaust für Israel verantwortlich fühlen, hätten eingreifen und Israel vor seinem kolonialistischen Selbst retten sollen. Das haben sie nicht gemacht. Daher verrät Deutschland seine selbsterklärte Verantwortung.« Das fühle sich »wie ein weiterer Angriff von Deutschland« an. Das hatte die preisgekrönte Journalistin schon am zehnten Kriegstag Kanzler Scholz vorgehalten: »Ihr Deutschen habt Eure ›aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung‹, also aus der Ermordung unter anderem der Familien meiner Eltern und dem Leid der Überlebenden, längst verraten. Ihr habt sie verraten, indem Ihr ein Israel vorbehaltlos unterstützt habt, das besetzt, kolonisiert, den Menschen Wasser entzieht, Land stiehlt, zwei Millionen Menschen in Gaza in einem überfüllten Käfig einsperrt, Häuser zerstört, ganze Gemeinden aus ihren Häusern vertreibt und Siedlergewalt befördert.«535

***

Dieses Buch hat mich seelisch an meine Grenzen gebracht. Ich habe Passagen in zig Büchern nachgelesen, habe Hunderte von Artikeln durchgearbeitet, habe an einem Dutzend Webinaren teilgenommen, habe mir Filme und Video-Zeugnisse angeschaut. Bei allem, was ich tat, fragte ich: Wäre das in Gaza möglich?

Ich fahre auf der A3. Hinweis: Frankfurt 47 km. So weit geradeaus kann man im Gazastreifen nicht fahren, man gelangt entweder an die ägyptische oder die israelische Grenze. Und dort geht es, wenn überhaupt, nur als Fußgänger weiter. Ich jogge entspannt im Wald. Einen Wald gibt es im Gazastreifen nicht. Ich schwimme in Rückenlage im Freibad und sehe Flugzeuge im Landeanflug auf Frankfurt oder von dort kommend. In Gaza könnte ich das angesichts von Drohnen und F-35-Kampfbombern nicht tun, zumindest nicht entspannt. Ich lese einen Beitrag über »Hafenlotsen«: Wie gerne hätten Geschäftsleute einen Hafen in Gaza gesehen! Israel sagte »nein!«

Gaza – das ist seit 1948 Krieg und Vertreibung, Militäroperationen zu Land, Wasser und aus der Luft, dazu innerpalästinensische Gewalt zwischen Fatah und Hamas sowie das Lynchen von Kollaborateuren. Die regelmäßigen Militäroperationen (ich nenne sie Kriege) – mal dauern sie Stunden, mal Tage, mal Wochen – nennt Israel »Rasenmähen.« Soll heißen: die palästinensische Gewalt auf ein erträgliches Maß zurechtstutzen. Neben dieser blutigen Gewalt macht die Besatzungsmacht Israel den über zwei Millionen Palästinensern das Leben auch anderweitig, z.B. bürokratisch, schwer. Die Menschenrechtsorganisation Gisha hat 50 derartige Hürden als 50 ­Shades of Control bezeichnet. Ich wähle per Zufallsprinzip Nr.39 aus: Israel »hindert Akademiker daran, zu Konferenzen ins Ausland zu reisen oder Kollegen in den Gazastreifen einzuladen. Israel verbietet auch ausländischen Forschern die Einreise nach Gaza.«536

Weitere Aspekte der Kontrolle und Besatzung hat dieses Buch nicht angesprochen, nicht das Mehlmassaker, nicht die möglichen noch steigenden Todeszahlen durch Epidemien, auch nicht das Thema Gasfelder vor Gazas Küste. Es wäre noch so viel zu sagen…

Sollte ich die Botschaft dieses Buches zusammenfassen, wäre es diese:

Gaza ist wie ein nahöstlicher Tell mit zehn oder mehr Siedlungsschichten: eine Schicht des Leids über der nächsten, ein Trauma folgt dem nächsten. In Gaza wird es Menschen verwehrt, zu planen und zu träumen. Zukunft wird vorenthalten, ebenso Achtung und Würde. Wer in Gaza jetzt immer noch an das Gute im Menschen glaubt, ist ein wahrer Held. Ein noch größerer ist der, der sich eine Zukunft mit Israelis vorstellen kann.537

Irgendwie Zuspruch finde ich bei Gideon Levy, dem Ha’aretz-Journalisten, den ich zweimal traf. Schon vor über zehn Jahren attestierte er seiner Gesellschaft, im Koma zu liegen. Nun schrieb er, sie lebe »in Verleugnung, völlig abgekoppelt von der Realität in ihrem Hinterhof«, womit er das Westjordanland und den Gazastreifen meint. Dort herrsche »ein Apartheidregime, eine der brutalsten und grausamsten Tyranneien der Welt.« Um trotzdem als Israeli mit sich und seinem Umfeld in Frieden zu leben, seien verschiedene Mechanismen am Werk, darunter »die systematische Entmenschlichung der Palästinenser«. Denn »wenn sie keine Menschen sind wie wir, dann stellt sich die Frage nach den Menschenrechten nicht wirklich.«538

Zurück zum Krieg, der nach rund acht Monaten schon 30 Mal so viele Tote gefordert hat, wie Israel am 7. Oktober 2023 beweinen musste. Wie kann er endlich überwunden werden? Wie kann eine vorsichtige Annäherung der beiden Seiten gelingen (von Frieden wage ich kaum zu reden)? Noch weit vor Gesprächen über Ein-Staat-, Zwei-Staaten-Lösung oder das Parallel-States-Project der schwedischen Lund-Universität muss passieren, was der israelische Friedensvisionär Uri Avnery mit Blick auf die Nakba so formulierte: »Ein wirklicher Friede, basierend auf wirklicher Versöhnung, beginnt mit einer Entschuldigung.« ­Avnery (1923-2018) stellte sich die Rede seines Staatspräsidenten oder Premierministers vor der Knesset so vor: Sehr geehrte Mitglieder der Knesset, im Namen des Staates Israel und all seiner Bürgerinnen und Bürger wende ich mich heute an die Söhne und Töchter des palästinensischen Volkes, wo immer sie sich befinden. Wir erkennen die Tatsache an, dass wir gegen Sie eine historische Ungerechtigkeit begangen haben, und wir bitten Sie in aller Demut um Vergebung.«539

Goldbach, 2. Juni 2024, dem 240. Kriegstag

(und letzten Tag des Deutschen Katholikentags mit dem Motto »Zukunft hat der Mensch des Friedens«)

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Endnoten (gekürzt)

518 Interview durch den Autor, Gaza-Stadt, 19.7.2006

519 Auswärtiges Amt: Siedlungsbau im Westjordanland, 4.11.2016, auswaertiges-amt.de

520 Zitiert in: Clemens Ronnefeldt: Der Gaza-Krieg. Hintergründe jenseits von Kassam-Raketen, in: Zivilcourage, Feb./März 2009, S. 6, versoehnungsbund.de

521 Gush Shalom-Anzeige in Ha’aretz, 18.5.2007, gush-shalom.org

522 Israelische Angaben, zitiert nach: What is Israel’s Iron Dome defence system and is it effective?, Al-Jazeera, 12.10.2023, aljazeera.com

523 Arte Reportage: Hamas: Die Erschaffung eines Monsters, 2024, arte.tv

524 Gershon Baskin: The Future of Hamas, 1.9.2023, per E-Mail erhalten, siehe auch timesofisrael.com

525 Judith Bernstein: Brief an das Auswärtige Amt, 3.11.2023, Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe (jpdg.de)

526 Nirit Sommerfeld: Nahostkonflikt: Warum Israelis kein Interesse daran haben, den Krieg zu beenden, in: Berliner Zeitung, 4.3.2024, berliner-zeitung.de

527 Vortrag v. Amira Hass per Zoom: 3. BIP-Konferenz, Nürnberg, 25.5.2024

528 Fabian Scheidler: Deutsche Israel-Politik: Die falschen Lehren aus der Vergangenheit, 22.4.2024, berliner-zeitung.de

529 Reporter ohne Grenzen: Rangliste der Pressefreiheit 2024, reporter-ohne-grenzen.de

530 3. BIP-Konferenz, Nürnberg, 25.5.2024

531 Stephan Detjen: Kommentar. Wir brauchen eine Debatte über das Verständnis von Antisemitismus. Deutschlandfunk, 11.11.2023, deutschlandfunk.de

532 Hanna Pfeifer/Irene Weipert-Fenner: Israel-Gaza: Ein deutscher Kriegsdiskurs, in: Heinrich Böll Stiftung e.V., 18.12.2023, boell.de

533 Am 29.10.2023 per E-Mail erhalten

534 Mohamed El Baradei: Naher Osten/Nordafrika: Weltordnung in Trümmern, in: IPG, 25.1.2024, IPG Journal, ipg-journal.de

535 Amira Hass: You Have Long Since Betrayed Your Responsibility, in: Ha’aretz, 16.10.2023, haaretz.com; eine deutsche Übersetzung ist u.a. bei Telepolis, Israel-Krieg: Ihr Deutschen habt Eure »aus dem Holocaust erwachsene Verantwortung« verraten, telepolis.de

536 Gisha: 50 Shades of Control, ohne Datum, gisha.org (PDF)

537 Siehe dazu Mahmoud Mushtaha: Can Palestinians imagine a future with Israelis after this war?, 27.5.2024, +972 Magazine, 972mag.com

538 Gideon Levy: Die bedingungslose Unterstützung Israels, in: junge Welt, 15.5.2024, Beilage »Naher Osten«, S. 4f.

539 In: Clemens Ronnefeldt: Der Gaza-Krieg. Hintergründe jenseits von Kassam-Raketen, in: Zivilcourage, Feb./März 2009, S. 5, versoehnungsbund.de

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Journalist, Referent und Reiseleiter

Journalist, Referent und Reiseleiter

Johannes Zang besuchte den Gazastreifen zahllose Male. Bündig skizziert er die britische Mandatszeit und die zwei Jahrzehnte unter ägyptischer Verwaltung. Er geht auf die Besatzung und die Blockade seit 2007 ein – und liefert ein umfangreiches Bild

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Stimmen aus dem Netz: „Der Israeli Rotem Levin und der Palästinenser Osama Iliwat setzen sich in einer NGO für die friedliche Koexistenz beider Völker ein. Sie sind überzeugt, dass nur Gewaltlosigkeit Frieden bringen kann.“

Johannes Zang | Im Gespräch

Eine Diskussion zu Hintergründen und Entwicklungen im Gaza-Konflikt mit Tamar Amar-Dahl (Autorin "Der Siegeszug des Neozionismus"), Johannes Zang (Autor "Erlebnisse im Heiligen Land") und Lena Obermaier (University of Exeter)

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Im zweiten Teil des Abends präsentiert der Journalist Johannes Zang sieben Geschichten aus Israel und Palästina aus seinem Buch „Erlebnisse im Heiligen Land“ (in Kooperation mit dem Promedia Verlag)

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