Leseprobe : Auf dem Weg in die Kriegstüchtigkeit

Renate Dillmann fragt: Warum wird Meinungs- und Pressefreiheit in demokratischen Staaten garantiert und doch beständig eingeschränkt? Wie funktioniert das Dreiecksverhältnis von Presse, Politik und Publikum? Wie frei und willig ist der Medienkonsum?

Wie sachlich berichten deutsche Medien in Bezug auf den Krieg in der Ukraine wirklich?
Wie sachlich berichten deutsche Medien in Bezug auf den Krieg in der Ukraine wirklich?

Foto: IMAGO/Avalon.red

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Medien. Macht. Meinung.

Medien. Macht. Meinung.

Renate Dillmann

Neue Kleine Bibliothek 342

239 Seiten

17,90 €

In Kooperation mit Papyrossa Verlag

Medien. Macht. Meinung.

Was wird berichtet – und was nicht?

Aktuelle Berichterstattung ist notwendig selektiv – es passiert viel und nicht alles kann in der jeweiligen Tagespresse auftauchen. Das ist einerseits klar. Nicht ganz so klar ist allerdings die Art und Weise, wie ausgewählt wird. Was wird in den deutschen Medien von der Tagesschau, den überregionalen Tageszeitungen bis zu den regionalen Blättern zur »Nachricht«? Was macht Schlagzeilen und wird damit ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gehoben? Und was nicht?

Natürlich ist gerade diese für Zeitungen wie Nachrichtensendungen elementare Frage der Auswahl vom Standpunkt des informationsbedürftigen und -willigen Publikums aus schwierig zu erfassen und noch schwieriger zu beurteilen. Denn deren Beantwortung setzt im Grunde einen Überblick voraus, den man durch die Informationen der »Profis« doch erst bekommen will.

Es ist jedoch schon viel gewonnen, wenn Leser bzw. Zuschauer sich immer wieder ins Bewusstsein rufen, dass weder die Auswahl der Nachrichten noch ihre Platzierung und auch nicht die Länge eines Beitrags zufällig zustande kommen. Sie sind auch nicht per se durch die Bedeutung eines »Themas« gegeben. Es ist eher umgekehrt: Auswahl, Platzierung und auch die auf eine Nachricht verwendete Quantität in Minuten bzw. Zeichen schaffen erst die Bedeutsamkeit eines »Fakts«, der zuvor in einer Reihe mit Millionen anderer, ebenfalls »wichtiger« Tagesereignisse steht. Damit wird er zum »Thema« gemacht.

Es ist insofern eine sinnvolle Frage, sich nach der Zeitungslektüre oder dem Anschauen einer Nachrichtensendung zu fragen, welche Ereignisse darin prominent behandelt wurden und warum das so war. Dafür gibt es in jedem einzelnen Fall einen Grund – man sollte dem nachgehen! Dazu im Folgenden Anregungen.

Beispiele

Heute haben mindestens 733 Millionen Menschen gehungert. Das ist ein Fakt und ein sehr grausamer dazu. Aber es ist keine Nachricht – außer vielleicht am »Welthungertag«, der jedes Jahr am 16. Oktober begangen wird. Es wäre ein Leichtes, mit all den Mitteln und Methoden, die zum journalistischen Handwerkszeug gehören, Artikel und Sendungen zustande zu bringen, die jedem Leser oder Zuschauer die Tränen in die Augen treiben – wie es in anderen Fällen und bei anderen Gegenständen der Berichterstattung Tag für Tag geschieht. Das ist offenbar nicht gewollt.

Warum das so ist, ist nicht sonderlich schwierig zu erklären: Der Welthunger findet ja tatsächlich jeden Tag statt; er gehört zu der auf der Welt geltenden »regelbasierten« Ordnung wie selbstverständlich dazu – ebenso wie Armut, massive Unterentwicklung im »globalen Süden« und (Bürger-)Kriege. Insofern bedauern viele den Welthunger, aber er ist doch eben Alltag, Normalität. Daher gibt es schlicht nichts Besonderes zu berichten – kein Skandal, keine Empörung.

Die Ausnahmen sind, wie gesagt, ein kurzer Bericht am jährlichen Welthungertag, etwa wenn der Bundespräsident zu Spenden aufruft. Und ab und zu ein Artikel oder eine politische Dokumentation über den Stand des Projekts, auf das die Staaten sich in den Vereinten Nationen verpflichtet haben: Bis 2030 soll der Hunger auf der Welt besiegt werden. Das ist ein Projekt, das vorwiegend wegen der chinesischen Armutsbekämpfung vorwärts kommt (was gar nicht so gerne berichtet wird) und ansonsten eher auf der Stelle tritt (wegen Finanzkrise, Pandemie, Kriegen – heißt es). Das Thema Hunger schafft es auch ausnahmsweise in die Medien, wenn eine der vielen Hungerkatastrophen auf der Welt politisch relevant und die deutsche Außenpolitik aktiv wird, sei es als »humanitäre Intervention«, bei der Deutschland sich ins Spiel bringen will, sei es als Kriegsdiplomatie wie im »Kornstreit« mit Russland im Sommer 2022.

Ein weiteres Beispiel: Mitte September 2022 ist im Iran eine junge Frau, Mahsa Amini, die von der iranischen Sittenpolizei wegen eines »Verstoßes gegen das Kopftuchgesetz« festgenommen wurde, auf einem Polizeirevier zu Tode gekommen. Der iranische Staat behauptet, sie sei infolge einer Krankheit gestorben; möglicherweise bzw. wahrscheinlich wurde sie aber auch geschlagen und misshandelt. Der Fall löste nicht nur eine Welle von Demons­trationen und Protesten im Iran aus, sondern alle westlichen Zeitungen und Fernsehnachrichten berichteten mehrmals und ausführlich darüber.

Mitte August 2022 ist in der saudischen Hauptstadt Riad eine junge Afrikanerin, Miriam Hannah Njeri aus Kenia, in Abschiebehaft ums Leben gekommen. Sie hatte versucht, in Saudi-Arabien Geld zu verdienen, um ihre Familie durchzubringen, war offenbar an den harten Bedingungen gescheitert und ist später vermutlich durch Misshandlung, Nahrungsmangel und hygienisch unhaltbare Zuständen im Abschiebeknast gestorben; ihre Leiche wurde vor einer Polizeistation in Riad gefunden.

Welches Presseecho hat dieser Fall gefunden? Die kenianische Zeitung The Nation hat darüber berichtet – und die linke Tageszeitung junge Welt, im Zusammenhang mit einem Artikel zur Arbeitsmigration in Saudi-Arabien. Sonstige Pressemeldungen in Deutschland? Fehlanzeige.

Auch hier – bei durchaus vergleichbaren Fällen – schafft es die eine Nachricht in die Medien und darüber in die Öffentlichkeit, die andere nicht. Was unterscheidet die Fälle? Offenbar die Frage, in welchem Staat die jeweilige junge Frau umgekommen ist – in dem einen Fall, Iran, wird breit berichtet; im anderen Fall, Saudi-­Arabien, ist es keine Meldung wert.

Die Erklärung dafür liegt in der unterschiedlichen Stellung, die der deutsche Staat zu diesen Ländern hat. Offenbar wie selbstverständlich (obwohl das überhaupt nicht selbstverständlich ist!), nehmen Journalisten unterschiedliche Haltungen zu diesen beiden Ländern ein: Feindselig gegenüber der iranischen Regierung, so dass man ihr kein Wort glaubt, stattdessen militante Demonstrationen und sogar Aufstände gegen sie durchaus wünschenswert findet; auf ein freundschaftliches Verhältnis im Fall Saudi-Arabien bedacht, da es hier um gewichtige ökonomische Beziehungen, Waffenexporte etc. geht, so dass die professionelle Öffentlichkeit dem Land zwar in einiger Hinsicht kritisch, aber keineswegs feindlich gegenübersteht.

Ein drittes Beispiel: Am 8. Februar 2024 berichtet die Tagesschau in einem längeren Beitrag darüber, dass die Zentrale Wahlkommission in Moskau Boris Nadeschdin von der Präsidentschaftswahl ausgeschlossen hat; der von der Kommission angegebene Grund (fehlerhafte Unterschriften) wird als vorgeschoben bezeichnet; als wirklicher wird vermutet, dass Nadeschdin als einziger Kandidat Kritiker des Ukraine-Kriegs ist. Unmittelbar danach galt die Aufmerksamkeit des Sprechers der Parlamentswahl in Pakistan, in der der ehemalige Premierminister Sharif als aussichtsreichster Bewerber gilt; in diesem Fall kein Wort dazu, dass mit Imran Khan der weitaus beliebteste Politiker Pakistans von der Wahl ferngehalten wurde, nachdem er in einem undurchsichtigen Verfahren gestürzt und mit einer ganzen Anzahl von Klagen und Verurteilungen überzogen wurde. Kein Wort auch dazu, dass dieser »regime change« nach der Ankündigung Khans erfolgte, sein Land werde im Ukraine-Krieg eine neutrale Position einnehmen.

Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch die sehr unterschiedliche mediale Aufmerksamkeit, die die Fälle von Alexej ­Nawalny und Julian Assange in den letzten Jahren erfahren haben.

Die Beispiele lassen sich verallgemeinern: Arbeitsunfälle, die sich an Arbeitsplätzen in Deutschland ereignen (übrigens mehr als ein Toter pro Tag, hauptsächlich jüngere Männer, oftmals Migranten) sind kein wichtiges Thema. Sie sind im Normalfall bestenfalls ein paar Zeilen (in den Regionalblättern) wert: »Mann stirbt bei bei Arbeitsunfall in 30 Meter tiefem Versorgungstunnel«, »Tödlicher Baustellenunfall: Arbeiter (47) von Betonbalken erschlagen«; Arbeitsunfälle in den von deutschen Unternehmen beanspruchten Billiglohnländern allenfalls dann, wenn es zu einer großen Katastrophe gekommen ist wie 2013 in Bangladesch. Anders verhält es sich, wenn Deutschland eine Menschenrechtsdiplomatie gegen bestimmte Länder eröffnet (aus welchen Gründen auch immer): Dann werden dort Arbeitsunfälle angeprangert, die die Rücksichtslosigkeit der Regierung belegen sollen (etwa im Fall der Baustellenarbeiter in Katar, Kohlegruben-Unfälle in China u. ä.).

Überhaupt wird über »unschöne Fakten« im eigenen Land eher unter ferner liefen berichtet; dazu zählen tote Obdachlose (zwischen 30 und 40 jedes Jahr allein in Hamburg) oder die in Armut aufwachsenden Kinder (43 Prozent in Gelsenkirchen, der in dieser Angelegenheit führenden deutschen Stadt). Dass im November 2023 die Volksrepublik China im Rahmen des »universellen periodischen Prüfungsverfahrens (UPR) des UN-Menschenrechtsrats Deutschland wegen der im Land verbreiteten Kinderarmut ermahnt hat, ist auch eine »Nachricht«, deren Entdeckung einige Recherche erfordert.

In Bezug auf die hiesige Corona-Politik ist bis jetzt die Berichterstattung über die Folgen der Millionen Covid-Infektionen ebenso wie die der Impfungen medial unterbelichtet.

Krankenhauskeime bilden in Deutschland ein ernsthaftes Pro­blem, dem Jahr für Jahr Tausende von Menschen zum Opfer fallen; für das Jahr 2017 spricht das Robert-Koch-Institut von 250.000 Infektionen mit etwa 20.000 Todesfällen, wobei die Tendenz keineswegs nach unten zeigt, die Zahlen steigen stetig. Dabei handelt es sich um politisch produzierte Krankheits- bzw. Todesfälle, was bereits daran deutlich wird, dass etwa die Krankenhäuser der Niederlande wegen ihres anderen Umgangs mit den Kosten in Kliniken dieses Problem nicht haben. Auch wenn es ab und zu erwähnt und in Polit-Magazinen behandelt wird: Für Tageszeitungen und Nachrichtensendungen ist dieser durchaus existenzielle Tatbestand kein wichtiges Thema, über das regelmäßig berichtet und dessen Entwicklung sorgfältig beobachtet wird. Das Gleiche gilt im Übrigen für Phänomene im Gesundheitswesen, die nicht unmittelbar tödlich enden, aber doch gravierende Folgen haben, wie die inzwischen deutlich mangelhafte Ernährungssituation in Krankenhäusern und die oft sehr schlechte Nachsorge, die eine ansonsten qualifizierte Behandlung vieler Patienten beeinträchtigen und ernsthaft gefährden.

Kritik und Proteste in Deutschland haben es je nach Thema schwer oder weniger schwer, in die Presse zu kommen. Über eine Demonstration in Berlin anlässlich des Tods von Mahsa Amini wurde sowohl in Printmedien wie auch im Fernsehen sehr breit und sympathisierend berichtet. Dagegen hat es eine durchaus große Demonstration in Düsseldorf ein paar Wochen später nicht in die TV-Nachrichtensendungen geschafft. Diese Demonstration richtete sich gegen neue massive Angriffe der Erdogan-Regierung auf Stellungen der kurdischen PKK bzw. YPG im Nordirak, bei denen mutmaßlich sogar Giftgas eingesetzt wurde. Während ein solcher Vorwurf im Fall des Syrien-Kriegs mehrmals als großer medialer »Aufreger« aufgemacht wurde, verzichteten die Journalisten von FAZ, Süddeutscher Zeitung oder des öffentlich-rechtlichen Rundfunks im Fall des NATO-Partners Türkei auf eingehendere Recherchen. Es gab keine erschütternden Bilder von betroffenen Frauen und Kindern und auch keine von der Demonstration der Kurden-Community (die einzigen fanden sich in Düsseldorf aktuell, einer Internet-Zeitung), nichts dagegen in den Fernsehnachrichten. Die überregionalen Printmedien brachten lediglich eine kleine dpa-Meldung (Deutsche Presseagentur).

Im Winter 2022 waren die laufenden großen Streiks in England und die Proteste in Frankreich, wo mehr als 2 Millionen Menschen gegen die von Präsident Macron verkündete Heraufsetzung des Rentenalters auf 64 Jahre auf die Straße gingen, nicht gerade ein Lieblingsthema der Nachrichtenredaktionen…

Ganze Kriege von großer Brutalität und mit horrenden Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung wie der seit 2015 laufende ­Jemen-Krieg (bis Ende 2022 annähernd 500.000 Tote und laut UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR »die größte humanitäre Katastrophe weltweit«) stoßen auf ein wesentlich geringeres Medieninteresse als der Ukraine-Krieg. »Der Jemen kam (…) in den Nachrichten praktisch nicht vor. Das gilt für führende in- und ausländische Nachrichtensendungen wie die deutsche und Schweizer Tagesschau, die österreichische Zeit im Bild 1 oder die US-amerikanischen ABC World News Tonight. Das gilt aber auch für die wichtigsten politischen Talkshows und praktisch alle führenden Printmedien. Insgesamt wurden in der Untersuchung, in deren Zentrum die mediale Vernachlässigung des globalen Hungers steht, mehr als 40 Medien ausgewertet und – mit Ausnahme des arte-Journal und der taz – gilt für alle, dass der Jemen in der Berichterstattung der vergangenen Jahre praktisch keine Rolle spielte.«

Offensichtlich fehlt in diesem Fall die mediale Empörung, weil dieser Krieg von Saudi-Arabien mit westlichen Waffen geführt wird und sich gegen den iranischen Einfluss in der Region richtet. Ab und an erinnern sich die deutschen Journalisten mit einer Meldung dann selbst an den von ihnen »vergessenen Krieg«. So bezeichnen die Nachrichtenredaktionen das Resultat ihres eigenen Tuns und Lassens allen Ernstes: als »vergessenen Krieg«. Zu dieser Ignoranz passt, dass sich erst dann, wenn »unsere« Interessen berührt sind, die Nachrichtenlage ändert; dass z. B. die Medien den Angriffen der ­Huthi-Milizen auf Handelsschiffe im Roten Meer ihre Aufmerksamkeit schenken, weil sie sich gegen Israels Krieg in Gaza richten und Gegenschläge der USA bzw. von NATO-Staaten erfolgen.

Die Vertreibung von nicht weniger als 1,7 Millionen Afghanen aus Pakistan lief ebenfalls weitgehend unterhalb des Radars der Leitmedien. Um Anfang November 2023 wurde an einigen Stellen über das Ultimatum der pakistanischen Regierung berichtet; es gab einige Bilder zu den Massen, die sich da unter elendsten Bedingungen auf den Weg machen mussten – und dann: Nichts. Was aus diesen Leuten wird, die in ein Land zurückgeschickt werden, dem die westlichen Staaten seit dem Abzug ihrer Truppen den Zugriff auf sämtliche Hilfsgelder verweigern, das demgemäß bereits seit dem Winter 2022 im Zustand einer Hungerkatastrophe lebt und jetzt zusätzlich fast zwei Millionen Menschen, die ihrerseits so gut wie nichts haben, versorgen soll, ist nur als Schreckensszenario vorstellbar. Aber eben eines, das die Medien zurzeit nicht interessiert – offenbar, weil sich kein politisches Kapital daraus schlagen lässt. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, wie national Humanismus daherkommt und funktioniert.

Berichte zu Kriegsverbrechen gibt es vor allem da, wo man sie sehen will – im Syrien-Krieg von Seiten der Assad-Armee, im ­Ukraine-Krieg von russischer Seite. Übrigens meistens dann, wenn eine militärische Entscheidung oder Friedensverhandlungen den Krieg beenden könnten. Auf ukrainischer Seite gibt es – zumindest für die deutsche Presse – keine Kriegsverbrechen. Aus russischen Medien, so sie überhaupt noch irgendwie zu uns durchdringen (RT deutsch wurde ja de facto bereits vor dem Ukraine-Krieg und nach seinem Beginn auch de iure verboten), ist anderes zu erfahren. Und auch bei Human Rights Watch oder Amnesty International fand sich dazu Einiges – aber eben nicht in den Leitmedien aus Frankfurt, München, Berlin und Hamburg.

Von den Massakern westlicher Armeen im Irak bei der Eroberung Falludschas, in Afghanistan im Fall Kundus (auf Befehl des Bundeswehr-Obersts Klein), in Mossul bei der Bekämpfung der Dschihadisten hatte die hiesige Presse umgekehrt nicht so Grässliches und Erschreckendes zu berichten. Rufe nach Strafverfolgung vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) sind in diesen Fällen nicht zu hören. Weil die eigenen Soldaten in den eigenen Rechtsstaaten bereits alle freigesprochen worden sind? Die USA haben sich die Anklage ihrer Soldaten in Den Haag ohnehin mittels Nichtanerkennung des IStGH verbeten.

Bemerkenswert ist, dass die Standpunkte auswärtiger Regierungen und Konfliktparteien – etwa Putin zum Ukraine-Krieg, Xi Jinping zu den Konflikten mit den USA oder Taiwan, aber auch der der indischen Regierung zu ihrer Ablehnung der Wirtschaftssanktionen gegen Russland – in der deutschen Presse nicht ausführlich dokumentiert werden. Das inhaltlich nicht gerade unwichtige Statement eines europäischen Regierungschefs – Europa rase auf einen Krieg zu wie ein Zug »mit einem verrückten Lokführer. (…) Wir müssen verhindern, dass Europa in einen Krieg geführt wird, der es ins Verderben stürzt. Europa bereitet sich jetzt auf den Krieg vor, jeder Tag ist eine neue Etappe auf dem Weg in die Hölle.« – bekam keinen Platz (es war der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, der das vor zehntausenden Teilnehmern eines »Friedensmarsches« am 1.6.2024 in Budapest gesagt hat). Nichts dazu in Tagesschau, heute-Nachrichten, der SZ oder der FAZ, sehr wohl aber im ORF, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Österreich.

In einer um Aufklärung und sachliche Beurteilung bemühten Presse dürfte man Informationen dieser Art jedoch erwarten. Und wenn es um Platz- oder Zeitprobleme ginge, wären die mit einem Link oder einer Online-Dokumentation in Zeiten des Internets leicht zu beheben. Eine Berichterstattung, die die Gegenseite, vielleicht auch abweichende Bündnispartner mit ihren Überlegungen und Einwänden zu Wort kommen lässt, fehlt in aller Regel.

Vorfälle, die ansonsten als staatsterroristische Akte große Aufmerksamkeit auf sich ziehen würden, wie die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines im September 2022, wurden medial unter den Teppich gekehrt. Nach einigen Tagen mit völlig bizarren Meldungen, die nahelegten, Russland habe seine eigenen Pipelines in die Luft gesprengt, gaben sich viele Journalisten damit zufrieden, dass »das Staatswohl« eine weitere Auskunft unmöglich macht – so der Pressesprecher der Bundesregierung. Wo sonst der terroristische Akt seine Urheber bloßstellen und angemessene Vergeltungsmaßnahmen rechtfertigen soll, ist das hier – wo höchstwahrscheinlich Verbündete am Werk waren – offenbar nicht so. Wenn das »Staatswohl vor Aufklärung« geht, wird das von der freien Presse ohne weitere Beschwerden so wiedergegeben.

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Expertin für Gesellschaft und Geschichte

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Renate Dillmann ist Politikwissenschaftlerin und arbeitet als freie Journalistin. Sie ist Expertin für Geschichte und Soziologie – und bekannt durch den Podcast „Der Real Existierende Wahnsinn“

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