Leseprobe : Die hohe Kunst der flachen Politik

Das Buch beleuchtet exemplarisch den Einstieg in die Euro-Rettungspolitik. Martin Heipertz seziert die taktischen Vorzüge und strategischen Nachteile von Merkels Krisenreaktionspolitik und ihre Ausrichtung an der erwarteten Medienresonanz

Ungarn, 2019: Geflüchtete Menschen auf dem Weg nach Deutschland, auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft
Ungarn, 2019: Geflüchtete Menschen auf dem Weg nach Deutschland, auf der Suche nach Sicherheit und einer besseren Zukunft

Foto: IMAGO/Depositphotos

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Merkelismus

Merkelismus

Martin Heipertz

kartoniert

272 Seiten

26 €

In Kooperation mit Westend Verlag

Merkelismus

Das Wesen der Macht

Macht ist die Fähigkeit, die eigenen Interessen auch gegen entgegengesetzte Kräfte anderer Akteure durchzusetzen. In moralischen Begriffen, zumindest denen, die Blaise Pascal gemäß dem christlichen Glauben formulierte, wird die Macht einem politischen Akteur durch die göttliche Vorsehung verliehen. Der Machthaber hat sodann die Pflicht, die Machtlosen zu schützen. Das ist es, was Pascal die »Eigenschaft der Macht« nennt: zu schützen.

Ein Staat hat Interessen und keine Moral – gemäß Machiavelli, für den die Trennung von Moral und Politik eine Voraussetzung für das Funktionieren und die Stabilität des Staates schlechthin ist. Aber wenn Historiker oder Politikwissenschaftler von nationalen Interessen sprechen, die das Streben nach Macht bestimmen und leiten, ist eine moralische Bewertung dieser Interessen dennoch möglich. Eine solche moralische Bewertung würde fragen: Wessen Interessen werden bedient? Nach Pascal und anderen christlichen Denkern wie Augustinus oder Thomas von Aquin, aber auch nach jüdischen und islamischen Denkschulen, ist jeder Träger von Macht für eine klar definierte Gruppe von Menschen verantwortlich.

In der Antike waren dies die Untertanen von Königen oder Kalifen und dergleichen oder auch der Demos einer attischen Polis. In einem modernen Nationalstaat hingegen geht es um den ­Citoyen, das heißt um die Gesamtheit der Bürger dieses Staates. In der ­Europäischen Union (EU), einer politischen Einheit ­sui ­generis, gibt es nach landläufiger Meinung (noch) keinen Demos. Die politische Macht wird zwischen den nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen sowohl geteilt als auch gebündelt (»gepoolt«). Die gesamte Verfasstheit soll dem Gemeinwohl dienen – aber was ist das Gemeinwohl in finanzieller Hinsicht, wenn sich die Europäer in Schuldner und Gläubiger, in Nettozahler und Nettoempfänger aufteilen?

Vom moralischen Standpunkt einer traditionellen christlichen Überzeugung aus hat zumindest die deutsche Regierung die Pflicht, den Bürgern Deutschlands zu dienen. Sie kann und muss also die ihr zur Verfügung stehende Macht nutzen, um primär deren Interessen zu schützen. Sie kann sich nicht auf moralische Argumente berufen, um ein anderes Vorgehen zu rechtfertigen, zumindest nicht in Verbindung mit der klassischen christlichen Ethik. Obwohl dies offensichtlich und sogar fast trivial erscheint, lohnt es sich, an diesen Anspruch zu erinnern – nicht zuletzt deshalb, weil sich Angela Merkels Partei nach wie vor als Vertreterin der »Christdemokratie« bezeichnet.

Kompliziert wird es, wenn sich unter mehreren Nationen ein Hegemon herausbildet, der überlegene Machtressourcen zur Verfügung hat. Man kann argumentieren, dass jener hegemoniale Staat aufgrund seiner asymmetrischen Machtposition eine moralische Pflicht – und möglicherweise sogar ein Interesse – hat, auch die Bürger anderer Staaten zu beschützen. Bis zu einem gewissen Grad kann dies sogar erhebliche Kosten für seine eigenen Bürger rechtfertigen. Dieser Umstand wird oft als »Bürde des Hegemons« bezeichnet und führt in der Regel zu langwierigen Debatten über Fragen der Lastenteilung (beispielsweise beim 2-Prozent-Ziel der NATO unter amerikanischer Hegemonie). Dennoch hat die Regierung eines hegemonialen Staates die Pflicht, fortlaufend zu prüfen, ob ihren eigenen Bürgern mit den bestehenden Vereinbarungen und dem Einsatz ihrer Macht unterm Strich gedient ist.

Die USA sind das Paradebeispiel eines hegemonialen Staates, hauptsächlich in militärischen und wirtschaftlichen Belangen. Deutschland, ein militärischer Zwerg, aber ein wirtschaftlicher Riese, kann aufgrund seiner ökonomischen und finanziellen Machtressourcen als Halbhegemon innerhalb der EU betrachtet werden. Wegen seines Mangels an »harter«, also militärischer, Macht und mehr noch wegen seines mangelnden politischen Willens, überhaupt Macht auszuüben, wurde Nachkriegsdeutschland oft als »Hegemon wider Willen« bezeichnet.

Wenn christliches politisches Denken für »Christdemokraten« von Bedeutung ist, sollten sie eine Vorstellung davon haben, was Augustinus die Ordo armoris nannte, eine Rangfolge in der Ordnung der Liebe: Es ist nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten, die eigenen Familienmitglieder mehr zu lieben als Fremde und das eigene Volk mehr zu hegen als die Angehörigen fremder Völker. Was für den Staat gilt, gilt auch unter Einzelnen: Nächstenliebe ist im wahrsten Sinne des Wortes die Liebe und das Mitgefühl für einen Menschen, auch für einen Fremden, der aber in unserer Nähe ist und für den wir daher die konkrete Macht und damit die Pflicht haben, zu helfen und ihn zu schützen – ganz im Gegensatz zu räumlich entfernten Personen.

In der Anfangsphase der Eurokrise, über die in diesem Buch berichtet wird, war das Selbstbewusstsein, die Last des wirtschaftlichen Hegemons tragen zu müssen, in den Köpfen von Politikern und Spitzenbeamten durchaus präsent. Die hegemoniale Stabilitätstheorie von Charles P. Kindleberger (1973) war 2010 in diesen Kreisen populär und sorgte für manche Zitate in offiziellen Reden – vor allem dann, wenn sie nicht auf Deutschland allein, sondern auf ein fiktives deutsch-französisches Tandem angewandt wurde.1

In einer Spielart der altbekannten »deutschen Frage« galt Deutschland als zu mächtig, um nicht als fiskalische Stütze in der Eurokrise gesehen zu werden, und war gleichzeitig zu schwach, um aus eigener Kraft die institutionelle Architektur der Gemeinschaftswährung grundlegend zu sanieren. Deutschlands Macht bestand, solange die Krise hauptsächlich mit fiskalischen und nicht mit monetären Mitteln angegangen wurde, also etwa von 2010 bis 2012, und solange die monetäre Stabilisierung des Euroraums durch die Europäische Zentralbank (EZB) immer noch eine zumindest stillschweigende deutsche Zustimmung zu erfordern schien. Doch selbst auf dem Höhepunkt seiner Macht fehlten Deutschland die Kraft und der politische Wille, seine Gläubigerinteressen gegenüber Schuldnerstaaten durchzusetzen – oder aber eine radikal andere Strategie für Europa zu verfolgen. Dies ist, kurzgefasst, die Botschaft dieses Buches.

Koste es, was es wolle

Die berühmten Worte »whatever it takes« werden gewöhnlich mit einer Rede von EZB-Präsident Mario Draghi am 26. Juli 2012 in London in Verbindung gebracht: »Im Rahmen unseres Mandats ist die EZB bereit, alles zu tun, was nötig ist, um den Euro zu erhalten. Und glauben Sie mir, es wird ausreichen.«2 Doch Draghi wiederholte lediglich ein gängiges Thema. Der Slogan »whatever it takes« war zuvor schon gelegentlich von Politikern in der Eurokrise verwendet worden, beispielsweise durch Kommissionspräsident José Manuel Barroso im Mai 2010: »We will defend the euro, whatever it takes.«3

Als ich am 5. Oktober 2012 an der Universität Oxford, meiner Alma Mater, über die Krise sprach, verwendete ich eine andere Wortwahl, versuchte aber eine ähnliche Botschaft zu vermitteln: »Unterschätzen Sie nicht unsere Entschlossenheit.«4 Bundeskanzlerin Angela Merkel erklärte am 19. Mai 2010 im Deutschen Bundestag: »Wenn der Euro scheitert, scheitert Europa.«5 Und zuvor, am 5. Mai 2010, hatte sie deklariert, ihre Politik sei »alternativlos«.6

Beispiele für diese Art von politischer Sprache zur Eurokrise sind Legion. Denn die Krise des Euro war im Wesentlichen eine Krise der politischen Glaubwürdigkeit.

Die Natur politischer Krisen

Eine politische Krise entsteht, wenn sich Politik abrupt der Realität anpasst. Dies kann aus zwei Gründen geschehen:

  • Erstens kann es vorkommen, dass sich die Realität sowohl schnell als auch tiefgreifend ändert. In solchen Fällen passt sich die Politik dem Wandel an. Sie tut dies in ähnlicher Weise und durch Ereignisse, die ebenso schnell und tiefgreifend sind – und dies wird gemeinhin als Krise wahrgenommen.
  • Zweitens könnte die zugrunde liegende Realität stabil sein – aber die Politik hat sich zu weit und zu lange von ihr entfernt. Dies passiert typischerweise dann, wenn die Politik von einer Ideologie oder von Überzeugungen geleitet wird, die der Realität widersprechen. Die Eurokrise ist ein solcher Fall. Ein erheblicher Teil dieses Buches dient dem Zweck, diese Behauptung zu untermauern.

Beide Arten von Krisen und die entsprechenden politischen Anpassungen sind durch extreme Unsicherheit und Zeitdruck gekennzeichnet. Entscheidungen müssen schnell und oft nach dem Prinzip Versuch und Irrtum getroffen werden. Die Folgen sind in der Regel ungewiss. Um es mit den Worten des ehemaligen US-Verteidigungsministers Donald Rumsfeld zu sagen:7

Wir wissen, dass es bekannte Unbekannte gibt; das heißt, wir wissen, dass es einige Dinge gibt, die wir nicht wissen. Aber es gibt auch unbekannte Unbekannte – diejenigen, von denen wir nicht wissen, dass wir sie nicht wissen.

In diesem Buch spielen politische Akteure eine zentrale Rolle. Von großer Bedeutung ist dabei ihre Bereitschaft, Risiken einzugehen. Risiko wird oft als eine mathematische Wahrscheinlichkeit beschrieben, die mit Kosten verbunden ist. Inmitten einer politischen Krise ist diese Betrachtung jedoch völlig hypothetisch. Angesichts der vorherrschenden Ungewissheit sind sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die Kosten nach Rumsfelds Terminologie »known unkowns«. Und das Risiko wird noch durch die Ahnung verstärkt, dass es auch »unbekannte Unbekannte« mit noch höheren Kosten und Wahrscheinlichkeiten geben könnte. Um ein politischer Akteur zu werden und zu bleiben, bedarf es vieler Eigenschaften. Die Fähigkeit, extreme Risiken im oben genannten Sinne zu tolerieren, ist darunter nicht die unwichtigste.

Neben dem Risiko ist das nächstwichtige Element die Zeit. Ein unmittelbares Risiko ist relevanter als ein weitentferntes Risiko derselben Größenordnung. Und ähnlich wie bei den finanziellen Kosten und Erträgen gibt es auch bei den Risiken einen Abschlag und eine zeitliche Veränderung der Bedingungen: Ein hohes Risiko kann weniger relevant sein als ein geringes, wenn Ersteres sich in ferner Zukunft befindet.

Dabei spielen die Persönlichkeit der politischen Akteure und ihre individuelle Situation eine Rolle: Viele Politiker werden erhebliche langfristige Risiken in Kauf nehmen, um im Gegenzug selbst kleine kurzfristige Risiken zu verringern – geleitet von der sprichwörtlichen Tatsache, dass die Zukunft ohnehin unbekannt ist. Diese Einstellung kann sowohl auf die Persönlichkeit als auch auf die Kultur und einfache Umstände zurückzuführen sein, zum Beispiel die Wahlzyklen in demokratischen Systemen, die eher zu Kurzsichtigkeit führen. Sie kann allerdings in entscheidenden Fragen nichts weniger als den Unterschied zwischen Politik und Staatskunst ausmachen.

Schließlich spielt auch die Wahrnehmung des sogenannten Tail Risks eine Rolle. Selbst bei geringen Wahrscheinlichkeiten konzentrieren sich die meisten Menschen und viele politische Entscheidungsträger auf das Worst-Case-Szenario. Sie nehmen oft ein langfristiges Risiko trotz hoher Wahrscheinlichkeiten in Kauf, um im Gegenzug ein kurzfristig drohendes, noch drastischeres, aber unwahrscheinliches Tail-Risk zu vermindern.

Die Staatsführer, die in die Geschichte eingehen, tun aber genau das Gegenteil und gehen extreme Wetten mit kurzem Zeithorizont ein. Die Nachwelt hält diese Persönlichkeiten dann für groß, wenn und weil ihre Wetten tatsächlich den Test der Zeit bestanden haben. Das gilt vor allem im Krieg, oft genug aber auch in Wirtschaft und Finanzen.

Das Erbe Merkels

Dieses Buch ist eine der ersten zeitgeschichtlichen und politologischen Würdigungen des politischen Vermächtnisses von Angela Merkel in einem bestimmten Politikbereich, nämlich der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Es basiert auf der Erkenntnis, dass die Entwicklung der WWU ohne Merkel an mehreren Stellen der Zeitgeschichte durchaus anders verlaufen wäre.

Nachdem sie sechzehn Jahre lang das bevölkerungsreichste und wirtschaftlich bedeutendste Land der EU regiert hat, ist ihr Einfluss auch in vielen anderen Bereichen der europäischen und deutschen Politik wie Migration, Energie und äußere Sicherheit oder auch Brexit monumental. Aber der Verlauf der WWU unter ihrer Regentschaft ist ein Thema, in das ich eine gewisse Einsicht beanspruchen darf und das darüber hinaus bis heute relevant geblieben ist. Zwei Beispiele untermauern diesen Anspruch:

  • Erstens ist die Schuldengemeinschaft in der EU seit der Covid-Pandemie und dem Ukraine-Krieg eine allgemeine Tatsache geworden. Davor wurden EU-Schulden von der Europäischen Investitionsbank (EIB) und in sehr geringem Umfang von der Kommission begeben. Seitdem zeichnet sich jedoch ein Wandel hin zu einer immer stärker ausgeprägten Schuldenunion in der EU ab.
  • Zweitens, die Monetisierung der Staatsfinanzen ist in der Eurozone zum Allgemeinzustand geworden: Die EZB hält enorme Summen staatlicher Schuldtitel und stellt dem europäischen ­Finanzmarkt Liquidität zur Verfügung, der im Gegenzug wiederum Staatsschulden in erheblichem Umfang als Sicherheiten hält

Wo aber liegen die Ursachen für beide Phänomene? Immerhin enthält der Maastrichter Vertrag über die WWU eine No-Bail-out-Klausel. Dennoch haben Griechenland und nacheinander Irland, Portugal, Spanien und Zypern umfangreiche Kredite, Garantien und Transfers erhalten. Der Vertrag von Maastricht verbietet auch die monetäre Finanzierung von Staaten. Dennoch haben die EZB und das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) die Schulden der Mitgliedstaaten in zuvor undenkbarem Umfang aufgekauft und darüber hinaus das Bankensystem mit Liquidität versorgt, um ebenfalls Staatstitel zu kaufen, wie bereits erwähnt.

In diesem Buch zeige ich, dass es einen übergreifenden kritischen Punkt auf dem Weg zur Vergemeinschaftung und Monetisierung von Schulden gab: der 7. bis 9. Mai 2010 und die hochpolitische Debatte um die erste griechische Rettungsaktion. Das meiste, was danach kam, war pfadabhängig.

Die Regierung Merkel spielte eine entscheidende Rolle bei dieser Entwicklung und bei der darauffolgenden Pfadabhängigkeit. Die dabei getroffenen Entscheidungen waren und sind nach wie vor massiv umstritten und Gegenstand intensiver rechtlicher, öffentlicher, politischer und wissenschaftlicher Debatten. In dem Maße, in dem die deutsche Regierung an ihrem Zustandekommen beteiligt war, sind sie zugleich Teil des politischen Erbes von Angela Merkel.

Es besteht kein Zweifel daran, dass die beiden genannten Merkmale – fiskalische Rettungsmaßnahmen und Monetisierung – für die vorläufige Stabilisierung der Gemeinschaftswährung von grundlegender Bedeutung waren. Allerdings geschahen sie um den Preis einer verfestigten, hohen Preissteigerung und der Aushöhlung des regelbasierten Systems der WWU-Governance. Mehr noch, im Zuge dessen hat sich Deutschlands Einfluss auf die Geschehnisse verflüchtigt.

Dies ist ein Fall für die eingangs erwähnte Veränderung von Risikobedingungen im Laufe der Zeit und unter großer Unsicherheit. In diesem Buch wird argumentiert, dass die Regierung Merkel das unmittelbare und sehr konkrete Risiko eines finanziellen Zusammenbruchs gegen vage langfristige Kosten in Form von Kaufkraft, Beeinträchtigung der europäischen Governance und Schwächung der Macht Deutschlands eingetauscht hat.

Ein Einblick in den Merkelismus

Das Buch bietet eine detaillierte, umfassende und chronologische Rekonstruktion jener Ereignisse und Elemente der politisch-administrativen Positionierung des Bundesfinanzministeriums innerhalb der Regierung Angela Merkel, die wichtige politische Entscheidungen für die WWU im Jahr 2010 beinhalteten oder zu diesen beitrugen. Sie umfasst das erste und prägende Jahr der Eurokrise.

Das Buch behandelt also die Ereignisse der Eurokrise des Jahres 2010 und enthält insofern zwei Fallstudien zu fiskalischen Rettungspaketen: Griechenland und Irland. Interessanterweise beschreiben diese beiden Fälle die polaren Gegensätze möglicher Ausgangslagen von Mitgliedstaaten des Euroraums innerhalb des sozioökonomischen Gefüges der WWU: Griechenland ist archetypisch für ein südeuropäisches, nachfrageorientiertes, importgesteuertes Wirtschaftsmodell mit niedrigem Wachstum, hoher Inflation und hoher Staatsverschuldung – Irland hingegen ist archetypisch für ein nordeuropäisches, exportorientiertes, angebotsseitiges Wirtschaftsmodell mit hohem Wachstum, niedriger Inflation und niedriger Staatsverschuldung.

Der Text erwächst aus der Perspektive des Autors in jener Zeit, tätig im Leitungsstab des deutschen Bundesfinanzministeriums. Es handelt sich also nicht um eine historische Arbeit, die sich auf eine Vielzahl unterschiedlicher Quellen verschiedener relevanter Akteure stützen würde. Vielmehr handelt es sich um den persönlichen und reflektierten Bericht eines im politischen Denken geschulten Zeitzeugen. Die Perspektive ist weder umfassend noch verbindlich – bestenfalls eine Quelle unter vielen für Zeithistoriker und vielleicht auch ein Denkanstoß für interessierte Beobachter der deutschen und europäischen Politik.

Das Buch befasst sich mit dem ersten multilateralen Rettungs­paket für Griechenland im Frühsommer 2010 und dem darauffolgenden Fall von Irland im November desselben Jahres, der von einem zu diesem Zweck neu eingerichteten zwischenstaatlichen Rettungsfonds behoben wurde. In diesem Text wird außerdem kursorisch auf die spätere Entwicklung eingegangen; darunter Banken­rettungsmaßnahmen, Schuldenrückkäufe, Bail-in-Beschlüsse für den privaten Sektor und »Haircuts« sowie Umschuldungen und Roll-over-Operationen, Neuverhandlungen und Folgeprogramme für bestimmte Länder.

Indem ich mich auf die Ereignisse im Jahr 2010 beschränke, behandle ich die Entwicklungen, die zum kritischen Zeitpunkt des ersten Staatsbankrotts in der Geschichte des Euro – Griechenland im Mai 2010 – stattfanden und die dadurch im politologischen Sinne eine sogenannte Pfadabhängigkeit für folgende Ereignisse schufen. Ich werde zeigen, wie und warum in Berlin die Entscheidung getroffen wurde, Griechenland zu retten und anschließend einem Rettungsfonds zuzustimmen, dessen erster Anwendungsfall dann Irland im November 2010 war.

Bei den Institutionen und Agenturen wird insbesondere auf die Bildung und Anwendung der zwischenstaatlichen Rettungsfonds, der temporären Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) und des permanenten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), sowie auf den Einsatz des gemeinschaftlichen Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) eingegangen. Ich verweise auf die spätere Einrichtung des Einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM) und des Einheitlichen Abwicklungsfonds (SRF) zur Abwendung von Bankenkrisen sowie auf weitere Einrichtungen im Bereich der Finanzmarktpolitik.

Ausgehend von der chronologischen Abfolge der Ereignisse befasse ich mich auch mit der Art und Entwicklung der nationalen Stabilisierungsprogramme und deren Auswirkungen in den Empfängerländern – so wie sie in Berlin wahrgenommen und interpretiert wurden. Die aufeinanderfolgenden Rettungspakete waren an solche Programme geknüpft und sollten die Interessen der Gläubiger schützen, indem sie den Moral Hazard verringerten und die Bedienung und Tilgung der Kredite sicherstellten. Moral Hazard oder moralisches Risiko beschreibt eine Situation, in der ein Akteur dazu verleitet wird, riskantes Verhalten zu zeigen, weil sie vor den negativen Konsequenzen geschützt ist. Dies kann passieren, wenn jemand weiß, dass die Kosten eines Fehlverhaltens oder Scheiterns von anderen getragen werden. Ein gutes Beispiel ist die Versicherung: Wenn eine Person weiß, dass sie im Schadensfall finanziell abgesichert ist, könnte sie weniger vorsichtig agieren. Auf Staatsschulden übertragen, besagt Moral Hazard, dass die Aussicht auf Rettung ein bankrottes Land erst recht zu unsolidem Haushalten verführt: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert.

Ich beschreibe somit das dreifache Leitmotiv der Stabilisierungsprogramme: Bedienung und Tilgung der Kredite, Steigerung des Wachstumspotenzials und Begrenzung des genannten Moral Hazard. Im Fall von Griechenland wurde in allen drei Belangen das Gegenteil erreicht. Solche Programme betrafen typischerweise unter anderem die Bereiche Sozialpolitik, Finanzmarktpolitik, Steuerpolitik und Arbeitsmarktpolitik – oftmals verbunden mit großen Härten, erheblichen innenpolitischen Turbulenzen und Regierungs- und Staatskrisen in den jeweiligen Ländern.

Darüber hinaus behandle ich die Evolution der Geldpolitik, wiederum aus Berliner Sicht. Diese Entwicklungen in Frankfurt begannen mit der Beteiligung der EZB an der sogenannten Troika, welche die Programme der Empfängerländer gemeinsam mit der Europäischen Kommission und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) entwarf und überwachte. Ich erörtere die wichtige Entscheidung der EZB, im Mai 2010 im Rahmen des Programms für die Wertpapiermärkte (SMP) griechische und andere Anleihen der Peripherieländer zu kaufen. Dies bahnte die strategische Entscheidung von EZB-Präsident Mario Draghi an, die Notenbank zum unbegrenzten Ankauf von EU-Staatsanleihen zu verpflichten, die schließlich im Sommer 2012 getroffen wurde, und mündete in spätere Ankaufprogramme des ESZB bis heute.

In diesem Buch berücksichtige ich auch Berlins Haltung zu institutionellen und strategisch-politischen Debatten über die europäische Integration, zum Beispiel die ergebnislose Diskussion über einen Schuldenrestrukturierungsmechanismus in der sogenannten Van-Rompuy-Taskforce im Jahr 2010.

Abschließend beschreibe ich auch die innenpolitischen Entwicklungen in Deutschland zu jener Zeit. Dazu gehörten rechtliche und verfassungsrechtliche Herausforderungen, denen sich die Regierung stellen musste, sowie die Entstehung parteipolitischer Konkurrenz zu Angela Merkels Christdemokratie, die mit einer euroskeptischen Ausrichtung im Parteienspektrum nachhaltig Fuß fassen konnte: die Alternative für Deutschland (AfD).

Das Buch basiert ausschließlich auf öffentlich zugänglichen Informationen. Es geht somit nicht um vertrauliche Inhalte, sondern um sogenanntes Mosaikwissen: Ich trage das Mosaik seiner Schilderung aus Steinen zusammen, die für sich genommen bereits im öffentlichen Raum vorhanden sind. Zentrale Elemente meiner Darstellung sind nicht zuletzt durch Wolfgang Schäubles »Erinnerungen« belegt,8 sodass ich zuversichtlich bin, nicht gegen meine Verschwiegenheitspflicht als Beamter zu verstoßen. Allerdings kann ich aufgrund meiner Treuepflicht nur sehr verhalten auf Umstände hinweisen, die meinen Dienstherren in einem ungünstigen Licht erscheinen lassen könnten. Soweit meine persönlichen Ansichten und Einschätzungen zum Tragen kommen, können diese sich im Laufe der behandelten Zeit geändert haben, wenn neue Informationen und Erkenntnisse verfügbar wurden. Ich bin bemüht, die Entwicklung meines Denkens zu den behandelten Themen so transparent wie möglich darzustellen.

Mit diesem Buch will ich zum Verständnis eines wichtigen Wendepunkts der europäischen Integration beitragen und das nach wie vor bestehende Interesse an umfassenden und objektiven, nicht-normativen, faktischen Innenansichten der politischen und administrativen Ereignisse während der Eurokrise bedienen.

Als historische, narrative Rekonstruktion will ich die akteurzentrierte Institutionenanalyse im Bereich der europäischen Integrationsforschung zur Funktionsweise und Entwicklung der WWU unterstützen. Die Lektüre setzt jedoch kein Expertenwissen in Integrationstheorie oder Wirtschafts- und Finanzpolitik voraus. Ich hoffe, dass ich mit meinem Buch daher sowohl die Integrationswissenschaft als auch Leser mit einem allgemeinen zeitgeschichtlichen Interesse an Europa und an der Krise der Gemeinschaftswährung ansprechen kann.

Über die WWU hinaus liefert das Buch im Kern eine Fallstudie der typischen politischen Entscheidungsfindung im Krisenreaktionsmodus unter Angela Merkel. Ziel ist, besser zu verstehen, wie und warum bestimmte Entscheidungen unter Merkel getroffen wurden, wie die maßgeblichen Akteure sich selbst und ihre Situation wahrnahmen und wie sie zu anderen Akteuren und zur Öffentlichkeit standen. Somit soll ein Gefühl dafür entstehen, warum und wie taktische Überlegungen im Ergebnis stets schwerer wogen als strategische Probleme, die sich später daraus ergaben, oder auch schwerer als strategische Fragen, die man sich zum Zeitpunkt jener Entscheidungen ebenfalls hätte stellen können.

Es handelt sich hier nicht zuletzt um eine Fallstudie zum »Inkrementalismus«, wie er von der Entscheidungstheorie verstanden wird. In konzeptioneller Hinsicht ziele ich darauf ab, die Entwicklung der politischen Herrschaft in der EU unter dem Stress der Krise zu erhellen. Ich will unser Verständnis der jener Krise vorangegangenen Perioden der europäischen Politik in Form von »Steuerung« (1970er- und 1980er-Jahre) und »Governance« (1990er- und 2000er-Jahre) durch ein Konzept des »Durchwurschtelns« für die Periode der Krisenreaktion (ab 2010) ergänzen.

Ich widme dieses Buch meiner elfjährigen Tochter Maria und ihrer Generation. Unsere Kinder tragen die Folgen jener Politik, die unter unserer Verantwortung gemacht wurde. Mögen sie trotz unserer Versäumnisse und Unzulänglichkeiten sicher und glücklich leben.

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Dr. Martin Heipertz ist Philosoph, Finanzexperte und Politiker. Seine Laufbahn umfasst zentrale Rollen in der Euro-Krise, beim Brexit und in führenden europäischen Institutionen

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