Vor zehn Jahren widmete sich das Maxim Gorki Theater mit dem Festival Es schneit im April der deutschen Mittäterschaft am Völkermord an den Armenier*innen 1915. Heute, 110 Jahre nach dem Genozid, geht der Blick weiter: In 100 + 10 – Armenian Allegories, dem Prolog zum 7. Berliner Herbstsalon RE-IMAGINE!, rücken junge Stimmen aus Armenien und der Diaspora ins Zentrum – mit Ausstellungen, Filmen, Performances, Literatur und Konzerten.
Der Titel des Festivals verweist auf zwei Zeitebenen: Auf die 100 Jahre, die 2015 den Ausgangspunkt bildeten – und auf die zehn Jahre, die seither vergangen sind. In dieser Zeit ist viel passiert. Die sogenannte Samtene Revolution 2018 weckte Hoffnungen, doch die Realität der Gegenwart – Krieg, Flucht, Blockaden, humanitäre Katastrophen – lässt alte Wunden neu aufbrechen. Insbesondere die Vertreibung hunderttausender Armenier*innen aus Bergkarabach (Arzach) im Herbst 2023 zeigt, wie erschreckend aktuell die historischen Traumata sind.
Im Zentrum des Festivals stehen Perspektiven der dritten und vierten Generation nach dem Genozid. Es sind Stimmen, die mit künstlerischen Mitteln Erinnerungsräume schaffen und politische Verantwortung einfordern. So erzählt der vielfach ausgezeichnete Musiker Tigran Hamasyan in The Bird of a Thousand Voices ein armenisches Märchen neu – als Allegorie auf das Wiedererwachen nach der Katastrophe. Arsinée Khanjian und Atom Egoyan fragen in Donation, was es bedeutet, die Vernichtung zu überleben – und dann neue Vernichtungen zu erleben. Und in Karabakh Memory spürt die ukrainisch-armenische Regisseurin Roza Sarkisian zum ersten Mal ihrer eigenen Familiengeschichte nach.
Parallel zeigt die große Ausstellung Future Imperfect über 40 Werke zeitgenössischer armenischer Künstler*innen – darunter Bilder von verbrannten Haustüren, verlassenen Räumen, zerstörten Heimaten. Was ist der richtige Umgang mit Gewalt? Was bedeutet es, Schönheit zu bewahren – oder zu zerstören – im Angesicht des Unvorstellbaren? Die Ausstellung stellt Fragen, die nicht immer eindeutige Antworten kennen.
Das Festival ist ein Akt der Erinnerung – aber auch ein Appell an Solidarität, Empathie und neue Allianzen. Es ist ein Aufruf zum Hinschauen, Zuhören und Weiterdenken. Es lädt ein, gemeinsam mit Künstler*innen aus Berlin, Armenien, Istanbul, Göteborg, Amsterdam und Bogotá neue Zukunftsvisionen zu entwerfen. Und es ist auch ein leiser, kraftvoller Akt des Widerstands – mit Mitteln der Kunst, der Liebe, der Hoffnung.