In Kooperation mit Eksystent FIlmverleih

„Das Drehen auf Film verändert die Denkweise“

In „Julie bleibt still“ wird das Schweigen zur Rebellion: Eine junge Frau widersetzt sich dem gesellschaftlichen Druck – und zwingt die Welt, ihr wirklich zuzuhören. Ein Gespräch mit Regisseur Leonardo van Dijl

„Das Drehen auf Film verändert die Denkweise“

Foto: Eksystent Filmverleih

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Julie bleibt still

Julie bleibt still

Leonardo van Dijl

Belgien, Schweden 2024

100 Minuten

Ab 24. April 2025 im Kino!

In Kooperation mit Eksystent FIlmverleih

Warum stellen Sie eine Figur ins Zentrum Ihres Films, die schweigt, anstatt sich zu äußern?

Ich wollte eine Geschichte erzählen, die Julie einen Weg nach vorne zeigt und die langsamen Schritte einfängt, mit denen Julie beginnt, ihre Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Julies Entscheidung, nicht zu sprechen, bringt eine einzigartige, befreiende und rebellische Energie mit sich, die den Film dazu zwingt, sich ihrem Tempo anzupassen und dem gesellschaftlichen Druck nicht nachzugeben. Im Laufe der Geschichte entwickelt sich Julie zu einer Heldin der Gegenwart, die Licht auf die verborgenen Zwänge und Ungerechtigkeiten unserer Zeit wirft. Wie Antigone wagt es Julie, „Nein“ zu sagen. In einer Welt, die sie zum Reden drängt, schweigt sie und zwingt die Welt dazu, wirklich ­ zuzuhören. Schweigen kann brutal sein und das Selbstwertgefühl langsam untergraben. Allerdings kann es auch sehr schädlich sein, sich zu äußern. Wie soll man sich entscheiden, wenn man vor diesem Dilemma steht? Wenn man mit der zerstörerischen Kraft des Schweigens oder der Gefahr, sich zu äußern, konfrontiert wird, bergen beide Entscheidungen die Aussicht auf einen Verlust. Letztlich geht es in „Julie bleibt still“ wirklich um die existenzielle Frage: „Sein oder Nichtsein?“

Selbst wenn sie schweigt, wirkt Julie nicht wie eine Einzelgängerin. Stattdessen lässt sie sich auf die Welt ein. Wir sehen, dass Julie sozial interagiert; es gibt wichtige Menschen in ihrem Leben. Ist der Film sowohl eine kollektive als auch eine individuelle Geschichte?

Absolut. Durch einen 360°-Ansatz wird die Ungerechtigkeit zu viel mehr als nur individuellem Leid – sie breitet sich im ganzen Umfeld aus. Als Julie wieder Kontakt zur Außenwelt aufnimmt, von der sie jahrelang abgeschnitten war, sehen wir, wie ihr Schweigen wirklich alles und jede:n um sie herum belastet. Ich hoffe, dass diese Perspektive einen konstruktiven Dialog über den Ansatz in den Bereichen Politik, Schutz und Bildung anstoßen kann. Eine sicherere Welt für Julie wird letztlich für uns alle sicherer sein, und wir alle tragen eine gewisse Verantwortung dafür, dass dies gelingt.

Sie schreiben in Ihrem Regie-Statement, dass Julies Schweigen Sie auf unerwartete Weise geleitet hat und Ihnen geholfen hat, die Welt, in der wir leben, zu verstehen. Was meinen Sie damit?

Beim Schreiben dieser Geschichte ist mir klar geworden, dass wir in vielerlei Hinsicht alle Julie sind. Wir alle haben ein Schweigen in uns – Dinge, die wir nie geteilt haben oder bei denen wir nicht wissen, wie wir sie ausdrücken sollen. ­ Julie erlaubt uns, dieses Schweigen zu erforschen, ob es nun ein Bewältigungsmechanismus, eine Form des Widerstands, der Ermächtigung oder der Gewalt ist.

Das Ende des Films ist so kraftvoll – aber auch offen für das, was die Zukunft bereithält.

Die erste Szene, die ich zu Papier gebracht habe, war das Ende. Das Ende war tatsächlich der Anfang. Dieses Ende symbolisiert neue Anfänge. Wir sollten uns von Julies Reise inspirieren lassen, um uns zu fragen, was wir für künftige Generationen tun können. Wir sollten Julie zu Wort kommen lassen und ihre Geschichte spürbar werden lassen, denn eine bessere Welt für Julie ist eine bessere Welt für uns alle. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, Julie und uns selbst aus diesem Labyrinth zu befreien.

Das klingt poetisch.

Das ist es, was meine Co-Autorin Ruth Becquart und ich versucht haben. Wir wollten das Poetische in etwas zurückbringen, das eigentlich zutiefst unpoetisch ist. Das sogenannte Gewöhnliche. Julie ist an einem Punkt, an dem sie nicht mehr in der Lage ist, das zu lieben, was sie ist; aber indem sie sich auf die kleinen Details im Leben konzentriert und die ­ darin verborgene Schönheit entdeckt, beginnt sie, sich wieder mit der Welt um sie herum zu verbinden. Die Liebe, die Julie für ihren Hund empfindet, das Schultheaterstück, an dem sie teilnimmt, die Sitzungen bei ihrem Chiropraktiker. Diese Dinge waren für uns tatsächlich der Schlüssel dazu, dass sie wieder zu sich selbst finden kann.

Sie haben mit vielen Laiendarsteller:innen gearbeitet. Wie schwierig war es, sie zu casten und mit ihnen am Set zu arbeiten?

Es war wirklich sehr aufregend. Wir hatten viele Rückmeldungen auf unseren Casting-Aufruf – ich glaube, Tessa (Julie) kam schon am zweiten Tag vorbei. Sie hatte eine Art, alle aufzumuntern, was es umso schmerzvoller machte, sie sich an Julies Stelle vorzustellen. Tessas Strahlen im Kontrast zum Schatten von Julies Schweigen war einfach herzzerreißend. Als ich Ruth, meiner Co-Autorin, zum ersten Mal ihre Casting-Aufnahme zeigte, haben wir beide geweint. Und als wir ­ Julie gefunden hatten, war es leichter, die anderen zu finden. Wir haben tatsächlich auch ein paar von Tessas Freund:innen gecastet, sodass viele Spieler:innen aus dem Club, in dem Tessa spielt, dabei waren. Bei Tessa bestand von Anfang an kein Zweifel daran, dass sie talentiert ist, aber die Art und Weise, wie sie während der Dreharbeiten die Leinwand beherrschte, hat uns alle verblüfft. Ich habe festgestellt, dass gute Tennisspieler:innen auch gute Schauspieler:innen sind, weil sie in der Regel sehr klug sind und ein schnelles motorisches Gedächtnis haben. Sie sind es gewohnt, Feedback sofort zu verarbeiten. Mir hat es also sehr, sehr viel Spaß gemacht, und ich finde, sie haben alle fantastische Leistungen geliefert.

Worauf kam es Ihnen beim Filmemachen an, um sicherzustellen, dass diese Botschaft nicht nur auf der Leinwand, sondern auch bei der Herstellung des Films ankommt?

Ich habe versucht, eine Umgebung zu schaffen, in der sich Tessa, die Julie spielt, und ihre Kolleg:innen sicher fühlen konnten. Keine:r von ihnen hatte vor dem Projekt Erfahrung mit der Schauspielerei. Ich habe deutlich gemacht, dass es immer eine Option sei, zu sagen: „Vielleicht – ich werde darüber nachdenken.“ Denn das ist für mich Entscheidungsfreiheit. Es geht darum, sich selbst zu gestatten, zu sagen: „Ich weiß es (noch) nicht.“ In Verhältnissen, die unsicher sind, geht es vor allem um „Ja“ oder „Nein“. Bei den Proben habe ich darauf geachtet, dass immer entweder eine professionelle Person aus den Bereichen Schauspiel oder Tennis oder jemand aus der Produktion im Raum war. Eine Person, mit der sie reden und der sie Fragen stellen konnten. Denn vielleicht würden sie sich nicht trauen, mich zu fragen, da ich für den Film stehe und in gewisser Weise nicht neutral sein kann. Am Set habe ich die Schauspieler:innen dazu ermutigt, Familie oder Freund:innen mitzubringen, und ich habe auch die Crew dazu ermutigt, mit ihnen zu interagieren. Ich wollte die Schauspieler:innen nicht isolieren, nur um konzentriert zu bleiben. Während die Konzentration entscheidend ist, wenn „Action“ gerufen wird, möchte ich, sobald „Schnitt“ gerufen wird, dass sie sich frei fühlen, um die wahre Freude am Filmemachen zu entdecken. Ich hatte das Glück, diese neue Generation in nur wenigen Wochen heranwachsen zu sehen, wie sie „das Kino“ in ihr Leben ließ und sich traute, ein Teil davon zu werden. Wild und entschlossen, Julie und ihre Geschichte auf die Leinwand zu bringen. Jede:r von ihnen hält auf eigene Weise die Botschaft des Films aufrecht. Das war wirklich wichtig, denn ich mache diesen Film für sie. Damit sie in einer Welt aufwachsen können, in der sie sich ­ sicher fühlen. Denn ich glaube wirklich, dass eine sicherere Welt für sie auch eine sicherere Welt für alle zukünftigen Generationen bedeutet.

Sie haben den Film auf 35mm gedreht und mit dem renommierten Kameramann Nicolas Karakatsanis („I, Tonya“, „Cruella“, „Bullhead“, „Dumb Money“) gearbeitet. Was wollten Sie in Bezug auf den Look und die Atmosphäre des Films erreichen und warum war das für diese spezielle Geschichte sinnvoll?

Das Drehen auf Film fügt mehr als nur Textur hinzu – es verändert auch die Denkweise aller Beteiligten. Da ist ein Gefühl von Verletzlichkeit. Jede Träne, jeder Seufzer, jede Einstellung, jede Filmrolle musste sorgfältig überlegt werden, bevor sie eingesetzt wurde. Es gab kein Drama nur um des Dramas willen. Alles fühlte sich kostbar an. Julies Schweigen sollte als rar, bewusst und zeitlos empfunden werden. Wir gingen sogar so weit, dass wir die Schlussszene auf 65mm-Film gedreht haben. Alles an Julie sollte sich so anfühlen, als hätte es einen großen Wert, als wäre es wirklich etwas ­ Besonderes.

Welche anderen Beiträge des künstlerischen Teams waren ­ wesentlich für die Gestaltung und Definition von Julie und des Films insgesamt?

Ich muss Caroline Shaw, unserer Komponistin, meine Anerkennung aussprechen, denn ihre Musik war mein Weg, Julie zu leiten. Ihr Einfluss auf diesen Film ist unbestreitbar, und die ­ Tatsache, dass wir sie für die Filmmusik gewinnen konnten, ist einfach bemerkenswert. Es fühlt sich wie eine echte Manifestation des kreativen Prozesses an.

Was ist für Sie als Filmemacher so interessant an der Welt des Sports oder der Leichtathletik?

Gibt es etwas, das Ihrer Meinung nach Tennis besonders schön und filmisch macht? Die Welt des Sports ist interessant, weil ich dort relevante Themen in ­ einem klar definierten Bereich ansprechen kann, der als umfassendere Metapher für unsere Gesellschaft dient. Auf einer persönlicheren Ebene ist ­ Julie furchtlos, und das ist sowohl ihre Stärke als auch leider ihre Schwachstelle – sie weiß nicht, wo sie die ­ Grenze ziehen soll. Ich identifiziere mich mit Julie, der Athletin. Kino war für mich nie eine Selbstverständlichkeit; ich musste mir jeden Schritt auf dem Weg dorthin erkämpfen. Der Weg war herausfordernd – manchmal missbräuchlich oder grausam –, aber am Ende habe ich meinen Film fertiggestellt, und das hat mir Kraft gegeben. Das hat mich die Mentalität von Athlet:innen über all die Jahre gelehrt. Außerdem empfinde ich persönlich eine ­ große Liebe zum Tennis, und ich ­ wollte, dass Julie von den Dingen umgeben ist, die ich wirklich liebe. Diese Liebe wollte ich dem Publikum vermitteln. Ich wollte sagen: „Du schaffst das schon. Trotz allem wird es dir gut gehen.“

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