„Ich war perplex angesichts der Absurdität“

Interview Der Filmregisseur Lionel Baier erzählt im Gespräch von der Entstehung und den Hintergründen seines Spielfilms. Ein Film, in dem er bewusst Komödie und Drama miteinander kombiniert hat, um einem schweren Thema mal ganz anders zu begegnen
Elisabeth Owona
Elisabeth Owona

Foto: W-FILM / Les Films du Losange

Warum spielt der Film im Jahr 2020?

Ich begann mit der Arbeit an dem Drehbuch 2014, kurz nach der ersten großen Migrationskrise im Mittelmeer. Ich besuchte Italien und Griechenland, um zu sehen, wie die „Aufnahme“ auf europäischem Boden tatsächlich abläuft. Damals war die Figur der Nathalie eine Britin, die für die Europäische Union arbeitete. Dann kam der Brexit, die Schließung der italienischen Häfen und Corona! Zwischen 2016 und 2021 waren mein Co-Autor Laurent Larivière und ich ständig auf der Jagd nach Ereignissen, die der Fiktion immer einen Schritt voraus sind. Hätten wir den Film im Jahr 2022 gedreht, hätten wir Putins Krieg einbauen müssen. Wir haben beschlossen, die Handlung im Jahr 2020 anzusiedeln, weil dieses Jahr so ikonisch ist, dass sich jeder daran erinnern kann. Schließlich sprechen wir von der Zeit vor und der Zeit nach Corona, so wie wir früher von der Zeit vor und der Zeit nach dem Krieg gesprochen haben. Jeder erinnert sich daran, was er kurz vor der Pandemie gemacht hat.

Die Pandemie bricht am Ende des Films aus...

Ja, es gibt einen tragikomischen Effekt, der den Film in unseren Augen ein letztes Mal aufrüttelt, so dass wir dem vollen Happy End ausweichen. Angesichts des Themas Migration, das sich durch den Film zieht, wäre das vielleicht etwas unpassend gewesen.

Warum also die Genres Komödie und Drama kombinieren?

Das war das Wagnis von „Nathalie“. Als ich Moria in Griechenland besuchte, um das europäische Personal bei der Arbeit zu beobachten, war ich perplex angesichts der dramatischen Absurdität, die dort herrschte. An der Küste von Lesbos wurden Schlauchboote angeschwemmt, die von einem Angestellten aufgeschlitzt wurden, damit sie nicht für eine weitere Überfahrt von der Türkei aus, die auf der anderen Seite des Wassers mit bloßem Auge sichtbar ist, benutzt werden konnten. Die Fernsehsender kämpften um exklusive Live-Bilder der ankommenden Migrant*innen und suchten sich die Auffälligsten heraus. Tourist*innen aus ganz Europa schlossen einen Besuch des Lagers in ihren Aufenthalt auf der Insel ein, um einen Blick auf die Migrant*innen hinter dem Stacheldraht zu werfen. Das hatte etwas Pathetisches und Beschämendes an sich. Da die Komödie das „höfliche“ Genre der Filmkunst ist, dachte ich, es sei besser, den Versuch zu wagen, lustig anstatt verzweifelt zu sein.

Wie fügte sich die Nebenhandlung zwischen Nathalie, gespielt von Isabelle Carré, und ihrem Sohn Albert, gespielt von Théodore Pellerin, ein?

Als aufrechter Europäer habe ich mich an die Lektion der Griechen und Rossellini gehalten: Reduziere die Probleme, die sich durch die Zivilisationen ziehen, auf persönliche Probleme! Die „Ilias“ oder „Reise in Italien“ sind Geschichten über eine Familie oder ein Paar, die zugleich einen Zustand der Welt problematisieren. Und dann erinnere ich mich an das Mädchen, das am Abend der Wahl von Emmanuel Macron im Jahr 2017 die europäische Flagge vor der Pyramide des Louvre schwenkte. Als ein Journalist sie fragte, weshalb, antwortete sie: „Europa ist die Mama!“ Das brachte mich zum Schmunzeln und ich fragte mich, wer diese „Mama“ sei. Auf welche Weise war sie für ihre Kinder da? Oder gaben ihre Kinder ihr die Schuld an allem, was schief ging, wie man es bei der eigenen Mutter so leichtfertig tut? Wir haben also das deutsch-französische Duo, das um die Vorherrschaft kämpft, und ein Europa, das nicht den Erwartungen seiner Kinder entspricht.

Könnte diese Idee nicht ein wenig theoretisch erscheinen?

Natürlich nicht, wenn man das Glück hat, Isabelle Carré, Théodore Pellerin, Ursina Lardi und Tom Villa in seiner Besetzung zu haben. Es ist schön, Mitglieder so unterschiedlicher Filmfamilien zusammenzubringen. Isabelle Carré ist eine Schauspielerin von absoluter Eleganz, die vor Ideen nur so strotzt und immer ein offenes Ohr für ihre Partner*innen hat. Sie erinnert mich an Miriam Hopkins: sie ist dynamisch und wird mit Rückschlägen ganz wunderbar fertig. Théodore Pellerin ist mir in „Genèse“ von Philippe Lesage aufgefallen. Als sein Foto unter den französischen Schauspielern auftauchte, die Albert spielen konnten, wollte ich ihn sofort kennenlernen. Mit ihm zu arbeiten ist ein seltenes Vergnügen, bei dem sich die Kühnheit der Jugend mit der Stärke der Erfahrung verbindet.

Dies ist der dritte Film einer Tetralogie...

Ja, ich habe bereits „Comme des voleurs (im Osten)“ in Polen gedreht, „Les Grandes ondes (im Westen)“ in Portugal, und eines Tages wird es „Keek (im Norden)“ in Schottland geben. Wenn es eine Sache gibt, an die ich glaube, dann ist es der Aufbau Europas. In meinen Augen ist dies der einzige Schutzwall gegen Barbarei und Nationalismus, welche ich verabscheue. Da die Europäische Union ein demokratischer Raum ist, ist es unsere Pflicht, sie in Frage zu stellen, sich über sie lustig zu machen und sie zu kritisieren. Aber ich glaube fest und aufrichtig an Europa und sogar an seine Bürokratie! Sie ist das kleinere Übel im Vergleich zum Krieg und den Vernichtungen der Vergangenheit.

29.05.2024, 15:26

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