Die Erinnerung ist diffus, und vieles geht durcheinander. Wann fingen die eigentlich mit dem Zählen an, schon 1983 oder erst 1987? Wie war das doch genau, war man „davor“ oder „danach“ aktiv? Das verschwommene Bild hat Gründe. Genau genommen gab es nämlich zwei Kampagnen gegen die Volkszählung, und das „davor“ und „danach“ bezieht sich auf das Verfassungsgerichtsurteil von 1983, das sich den Ereignissen davor verdankt. Im Frühjahr ’83 schossen plötzlich (bundes)republikweit Boykott-Initiativen gegen die im April geplante Volkszählung aus dem Boden, so genannte „VoBo-Komitees“. Vielerorts, wie in Karlsruhe, waren sie nach Stadtteilen organisiert. Und als hätte der ganze Polit-Frust, der
der sich damals aufgestaut hatte – Atompolitik, Startbahn West und Pershings –, ein Ventil gefunden, strömte alles zusammen: die zerfledderte Linke, die autonome Hausbesetzerszene, die Friedens- und Frauenbewegten. Aber eben auch brave Bürger, die keine Lust hatten, sich vom Staat ins Wohnzimmer schauen zu lassen und das Milliardenprojekt für Geldverschwendung hielten.In Karlsruhe waren es die Autonomen, die die Initiative ergriffen: Der „Schlachthof“, ein einschlägiger Veranstaltungsort, erwies sich jedoch schnell als viel zu klein, und die 700 Besucher der ersten VoBo-Veranstaltung im März 1983 mussten ins „Alte Stadion“ ausgelagert werden. Es ging politisch „fürchterlich chaotisch“ zu, entnehme ich meinen Aufzeichnungen, aber auch, dass das Ereignis uns „riesigen Aufschwung“ gegeben habe. Was waren schon die Scharmützel in Wyhl und Brokdorf, der lokal begrenzte Kampf gegen die Startbahn in Frankfurt, die Solidarität mit Nicaragua, wenn sich „das Volk“ plötzlich bis in den letzten Winkel gegen seine Aushorchung erhob, ein Jahr, bevor Orwell „Big Brother“ prophezeit hatte?Nur Schafe ließen sich zählenAls das Bundesverfassungsgericht die Zählung stoppte, gab es Jubel, obwohl der Glaube an die Justiz nach dem „Deutschen Herbst“ nicht sehr verbreitet war. Zu den politischen Phänomenen des Volkszählungsboykotts gehört es immerhin, dass der Widerstand, als vier Jahre später die meist abkommandierten, oft widerwilligen Zähler mit ihren Zählkoffern und Haushaltsheften losgeschickt wurden, sofort wieder da war. Dabei hatte sich die Bundesregierung doch, wie selbst Datenschützer lobten, redlich Mühe gegeben, mit getrennten „Personen- und Wohnungsbögen“ und „Haushaltsmantelbögen“ die Anonymität der Erfassten zu wahren. Der Argwohn gegen den Staat war dennoch riesig – und damals war die Politik mit Misstrauensvoten noch zu beeindrucken.Tausende Diskussionsveranstaltungen, hunderttausende Broschüren („Nur Schafe lassen sich zählen“), Millionen von Flugblättern – und eine Polizei, die konfiszierte, eine Justiz, die Verfahren einleitete, ein Staat, der versprach und drohte. Wie überall diskutierten wir Strategie und Taktik: Was tun, wenn der Zähler vor der Tür steht? Nicht aufmachen, nicht reinlassen. Als ordentlicher Boykotteur ließ man die Hansel auflaufen, einmal, zweimal, dreimal und sich die Unterlagen dann mit der Post schicken. Öffnete einer versehentlich, sagte er: „Ich bin nur die Putze“, in einer WG nicht unbedingt glaubhaft. Der harte Kern schnitt die Zählnummer auf den Bögen ab und brachte sie zu den Sammelstellen, die den Boykott erfasste. Mancher ließ die Unterlagen auch einfach liegen, redete sich heraus, forderte neue an. Es war ein Gesellschaftsspiel, Verzögerung, Verwirrung, Verweigerung. In meinem Fall gehörte eine gewisse Schizophrenie dazu: Während ich als Historikerin damals den Mikrozensus von 1925 auswertete, glücklich über das sozialstatistische Material und nur gelegentlich von Zweifeln angenagt im Hinblick auf seine Gültigkeit, wies ich gleichzeitig dem Volkszähler die Tür.Jahrelange ProzesseSpätestens wenn der „Heranziehungsbescheid“ im Kasten lag mit Rechtsmittelbelehrung und Bußgelddrohung, musste man sich entscheiden: Widerstand und Zwangsgeld? Oder lieber die Behörden irreführen, indem man falsche Angaben und damit die Zählung praktisch unbrauchbar machte? Wenn man sich nicht ganz blöd anstellte, konnte das nie herauskommen, andernfalls hätte man einen Datenschutzskandal nachweisen können. Nahm man aber teil, war der spitzeste Stachel des Widerstands gezogen. Nur eine kleine Minderheit hielt den „harten“ Boykott, dessen juristischen Folgen sich über Jahre hinzogen, bis zum Ende durch. Viele nahmen es dann nur noch zur Kenntnis, wenn sie zu einer Spende für den VoBo-Soli-Fonds aufgefordert wurden.Als die Zählung vorbei war, verpuffte der politische Elan, eine Revolution war es natürlich nicht geworden. Doch immer wenn ich jetzt als Journalistin über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schreibe, werde ich an diesen eigenartigen Aufstand erinnert, der den Datenschutz überhaupt erst ins linke politische Bewusstsein gebracht hat.