Pokern um Waffenruhe in Gaza: Die Biden-Regierung braucht einen Erfolg, die Hamas weiß das

Meinung Wenn die Regierung Netanjahu einer unbefristeten Feuerpause zustimmt, gibt sie zu, ihre Kriegsziele nicht erreicht zu haben. Die Hamas bringt das in die Position, durch eine Übereinkunft genau das zeigen zu können
Abwurf von Hilfsgütern über Gaza
Abwurf von Hilfsgütern über Gaza

Foto: AFP/Getty Images

Es ist müßig, darüber befinden zu wollen, ob die palästinensische Kampforganisation Hamas das derzeit kolportierte Angebot für eine befristete Waffenruhe in Gaza annehmen soll oder nicht. Zunächst: Wie soll man sich ein Urteil bilden, solange nicht die Details bekannt sind? Einfließen müsste auf jeden Fall, dass die Regierung Netanjahu erklärt, eine Übereinkunft ändere nichts an ihrer Absicht, die Stadt Rafah mit ihren Camps für mehr als eine Million geflüchteter Palästinenser anzugreifen. Da ist es nachvollziehbar, dass die Hamas zögert oder letzten Endes sogar abwinkt. Nur ein Abkommen über eine Waffenruhe, das eine Operation gegen Rafah abwendet, käme ihr wirklich entgegen. Wirksamer kann man die Bevölkerung nicht schützen, ließe sich argumentieren.

Die Hamas hat außerdem keinen Grund, der Regierung Biden einen Gefallen zu tun, die einen diplomatischen Erfolg aus optischen, nicht zuletzt innenpolitischen Gründen braucht. Nicht allein die andauernden, sich steigernden und beeindruckenden Proteste an US-Hochschulen lassen vermuten, dass Biden gerade massiv Zustimmung bei jungen Amerikanern verliert, was ihm Anfang November gegen Donald Trump zum Nachteil gereichen könnte.

UN-Organisation stellt fest: Zerstörungen wie seit 1945 nicht mehr

Wie kein anderer Staat weltweit haben die USA die israelische Armee in die Lage versetzt, den Gazastreifen in einer Weise zu schleifen, dass am 2. Mai das UN-Entwicklungsprogramm UNDP konstatiert hat, es seien für eine Region die schlimmsten Zerstörungen seit dem Zweiten Weltkrieg verursacht worden. „Diese Intensität in so kurzer Zeit und das enorme Ausmaß der Zerstörung“, so der lokale UNDP-Direktor Abdallah al-Dardari, habe man seit 1945 nicht mehr gesehen. Es werde möglicherweise bis zum Jahr 2040 dauern, sie zu beheben und für Hunderttausende von Menschen wieder eine Existenzgrundlage zu schaffen.

Zuletzt kamen Geiseln durch die Waffenruhe vom 11. November frei

Die Hamas wird allein aus ihrer Interessenlage heraus entscheiden. Und die resultiert aus der Tatsache, nicht geschlagen zu sein und das bleiben zu wollen. Das heißt, Benjamin Netanjahu und seine Armee haben das verkündete, immer wieder erneuerte Ziel, die Hamas zu vernichten, in nunmehr sieben Monaten Krieg nicht erreicht. Es wurden durch die direkte militärische Aktion so gut wie keine Geiseln befreit. Wenn es dazu kam, war es der Vereinbarung über eine befristete Waffenruhe am 11. November 2023 zu danken, als 50 Deportierte freikamen. Wenn sich Gefangene selbst befreien konnten, wie drei Männer am 14. Dezember 2023, wurden Sie von den eigenen Soldaten erschossen, wie am 14. Dezember 2023 irrtümlich geschehen.

Den Ereignissen der vergangenen Tage ist zu entnehmen, dass die Hamas politisch handlungsfähig ist. US-Außenminister Antony Blinken hat sie direkt aufgefordert, sie möge ein Agreement über eine befristete Feuerpause und eine begrenzte Rückkehr von Geiseln nach Israel, dazu die Freilassung von palästinensischen Gefangenen aus israelischen Gefängnissen, annehmen. Eine Kriegspartei wird damit als Verhandlungs- und Vertragspartner gesehen und behandelt. Blinkens Appell wirkt wie eine Botschaft an Benjamin Netanjahu, die ihm zu verstehen gibt, seine Kriegsziele verfehlt zu haben, worauf die Amerikaner nun keine Rücksicht mehr nehmen können – und wollen.

Und das obwohl ohne Schonung der Zivilbevölkerung seit nunmehr sieben Monaten ein Krieg geführt wird, der den Palästinensern in Gaza – siehe Befund des UNDP – für lange Zeit, wenn nicht für immer Existenzrecht und Heimstatt nimmt. Wer wollte ausschließen, dass dies ein mindestens ebenso maßgebliches Ziel war wie die Befreiung der Geiseln und die völlige Vernichtung der Hamas? Wie ist sonst zu erklären, dass ein derart massiver Militäreinsatz nicht wenigstens zur Befreiung einiger Geiseln geführt hat? War man tatsächlich einer asymmetrischen Kriegsführung zu wenig gewachsen, mit der doch von Anfang an zu rechnen war? Womit sonst? Die militärische Unterlegenheit der Hamas wurde durch die Art der Operationen ständig verstärkt, aber nie „kriegsentscheidend“ überwunden.

Schon jetzt verloren hat Israel die Schlacht um die Legitimität seines Handelns

Es steht außer Frage, dass Netanjahu verloren hat, wenn er nicht bei allen proklamierten Kriegszielen gewinnt. Dies dürfte der entscheidende Hintergrund für das derzeitige Pokern um Dauer und Konditionen eines Waffenstillstands sein. Sollte für den Waffenstillstand keine Frist gelten und das mit einer Hamas vereinbart werden, die nicht geschlagen ist, kann Netanjahu keinen Sieg verkünden, sondern nur das (vorläufige) Ende des Krieges. Ob er das politisch überlebt und seine Koalition als Regierungsallianz übersteht, darf bezweifelt werden.

Schon jetzt verloren hat Israel den „Krieg der Bilder“ und die Schlacht um die Legitimität seines Handelns. Die Welt wurde Zeuge, wie nach dem Massaker vom 7. Oktober 2023 Selbstverteidigung in ein Blutbad als Fortsetzung von Besatzungspolitik mit militärischen Mitteln überging. Moralischer Kredit wurde verspielt, und politische Logik blieb auf der Strecke. Warum? Erstens werden die Opfer dieses Feldzuges mit ziemlicher Sicherheit die Täter von morgen sein. Wie soll das Schicksal Zehntausender Familien anders kompensiert werden als durch Vergeltung? Es sei denn Wiedergutmachung durch Israel versucht, dem entgegenzuwirken, aber danach sieht es nicht aus. Zweitens hat die Kriegsmethode dazu geführt, die Hamas moralisch zu entlasten. Das hätte nur dann – wenn überhaupt – verhindert werden können, wäre es gelungen, sie für immer von der Bildfläche verschwinden zu lassen.

Dass es sich damit um ein nahezu unmögliches Unterfangen handelte, stand von vornherein so gut wie fest. Das galt auch für den Umstand, dass alle Beteiligten inklusive der westlichen Unterstützer Israels, davon wussten. Und doch so taten, als wäre es anders.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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