Nach der Europawahl: Minderheiten akut in Gefahr

Meinung Mit den Wahlerfolgen der Rechtsextremen zeigt sich, dass es für viele Gruppen in diesen Ländern unbequemer wird. Solidarischer Antirassismus sollte sich nun auf diese Gruppen, allen voran Geflüchtete, konzentrieren
Viktor Orbán und Giorgia Meloni
Viktor Orbán und Giorgia Meloni

Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP/picture alliance

Am Tag der Europawahl war ich für eine Recherche in Budapest. Dort hat die regierende, rechtsextreme Fidesz-Partei die Stadt mit Plakaten zugeklebt, auf denen „Stopp den Krieg“ steht. Darauf zu sehen waren neben den Gesichtern der ungarischen Opposition auch das Konterfei des US-amerikanisch-jüdischen Milliardärs George Soros. Der jüdische Philanthrop mit ungarischen Wurzeln dient dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán seit Jahren schon als Projektionsfläche für antisemitische Verschwörungstheorien. Die Fidesz hat zwar mit 44 Prozent bei der Europawahl ihr schlechtestes Ergebnis seit langer Zeit eingefahren, dennoch hat dort wieder einmal der Antisemitismus gewonnen.

Die völkische „Mi Hazánk – Unsere Heimat“, die undiplomatisch das Existenzrecht von Minderheiten in Europa leugnet, hat 6,8 Prozent eingefahren. Die rechtsextreme Regierung in Israel freut sich über den Triumph der völkischen Kräfte in Europa. Und das, obwohl bei dieser Europawahl der performative Kampf der europäischen Mehrheitsgesellschaften gegen den Antisemitismus überall in Europa Antisemiten zu Erdrutschsiegen verholfen hat. In den Wahlanalysen spielte dieser Aspekt bisher fast keine Rolle – weil der europäische Antisemitismus dazugehört. Orbán pflegt vor allem die antisemitische Legende, dass Soros mit seinem Vermögen Geflüchtete nach Europa verfrachten würde.

Am vergangenen Sonntag hat sich eine Konstante wieder bestätigt: In den europäischen Gesellschaften ist das rechtsextreme Wähler*innenpotenzial mit all seinen menschenfeindlichen Aspekten extrem hoch – weil rechtsextreme Einstellungen in Europa weitverbreitet sind. Je klarer die völkisch-nationalistischen Ideologien dargestellt werden, je häufiger rassistische Skandale rund um die AfD, die spanische Vox, den französischen Front National oder bulgarische Ultranationalisten enthüllt werden, desto attraktiver sind die jeweiligen Parteien für jene europäischen Wähler*innen, die schlicht Hass auf Minderheiten pflegen. So hat die österreichische FPÖ die Europawahl in ihrem Land deutlich gewonnen: radikaler denn je, fokussiert auf das Zurückdrängen von Flüchtenden.

Vor meiner Reise nach Budapest war ich in Wien. Dort habe ich eine skurrile Beobachtung gemacht: überall in der Stadt hing ein besonderes Plakat zum Wahlkampfabschluss der FPÖ: Zu einer Rede des radikalen Parteichefs Herbert Kickl wurde damit geworben, dass das FPÖ-Publikum bei einer Schneiderin auf der Wahlkampfveranstaltung Hosen und Blusen gratis flicken und anpassen lassen könne. Das zeigt das Dilemma im Kampf gegen weitverbreitete rechtsextreme Ansichten: Wie sähe ein alternatives, politisches Angebot aus, um so ein Publikum wieder ins demokratische Spektrum zu holen?

Gibt es die guten Nachrichten?

Um 2 Uhr in der Nacht vom Wahl-Sonntag auf den Montag tritt die italienische Ministerpräsidentin Georgia Meloni vor die Kameras in Rom. Sie feierte ihren Erfolg vor ihren Anhänger*innen. Als eine der wenigen amtierenden Regierungschefs in Europa hat sie mit ihren Fratelli d’Italia die Europawahl in ihrem Land mit knapp 29 Prozent klar gewonnen. Faschismus zahlt sich aus: Meloni steht nicht nur für eine restriktive Politik gegen Geflüchtete und Flüchtende, Meloni hat in der Vergangenheit und auch bei diesem Wahlkampf Stimmung mit dem Motiv der Kleinfamilie gemacht. Vater, Mutter, (am besten mehrere) Kinder, so betont Meloni immer wieder, sei die Formel gegen „die Verschwulung“ Italiens und Europas. Immer wieder hat sie sich LGBTQ-feindlich positioniert und meint damit nicht die akademischen Debatten rund um das deutsche Gender-Sternchen.

Denn in Italien ist das Potenzial durchaus gegeben, dass sexuelle Minderheiten bald staatlich verfolgt werden. In Italien und anderswo in Europa sind Minderheiten akut in Gefahr: Sinti und Roma, von Armut betroffene Menschen, Menschen mit Behinderung. Dabei ist die Frage nur, in welcher Reihenfolge es welche Minderheit wann und wie intensiv zu spüren bekommt. Dabei muss immer wieder betont werden: Schutzsuchende sind in der Europäischen Union und an ihren Außengrenzen längst an der Reihe. Solidarischer Antirassismus muss sich also auf jene Gruppe konzentrieren, die am verletzbarsten ist, auf Geflüchtete und insbesondere flüchtende Menschen. Diese Gruppe wird längst mit der ganzen Härte der staatlichen Menschenfeindlichkeit zurückgedrängt. Dieser Gruppe steht, man glaubt es kaum, eine noch schwierigere Zeit bevor.

Die konservative Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen hat sich in den vergangenen Monaten als Freundin Melonis profiliert. Bilder zeigen die beiden mächtigen Frauen lachend auf Reisen zu Diktatoren in Nordafrika – um Schutzsuchende an ihrer Flucht zu hindern, zurückzudrängen, militarisierten Polizeieinheiten zu überlassen. Europa erodiert nicht nur vom rechten Rand, seine Werte zerfallen gleichermaßen von der vermeintlichen Mitte aus. Es ist nicht auszuschließen, dass das europäische Asylsystem nicht mehr nur faktisch, sondern ganz offiziell abgeschafft wird.

Und wo bleiben die guten Nachrichten? Die gibt es kaum. Es hieß in einigen Berichten, dass die pro-europäische Bürgerplattform in Polen oder Grüne in skandinavischen Ländern Stimmen zugewonnen hätten. Zur Wahrheit gehört auch: Diese vermeintlich linken, liberalen oder mittigen Kräfte haben dem flüchtlingsfeindlichen Konsens längst zugestimmt. Die polnische Regierung unter Ministerpräsident und Ex-EU-Kommissionspräsident Donald Tusk hält an der restriktiven Migrationspolitik der rechten Vorgängerregierung fest. Ähnlich sieht es beispielsweise in der Sozialdemokratie in Dänemark und ihren strengen Regeln für Asylsuchende aus. Gewalt gegen Flüchtende ist das Lagerfeuer, an dem sich viele in Europa zusammengefunden haben. Das hat diese Europawahl gezeigt.

Mohamed Amjahid ist Journalist, Moderator und Autor. In seinen Büchern Unter Weißen (2017) und Der weiße Fleck (2021) sowie Let's Talk About Sex, Habibi (2022) setzt er sich mit Rassismus und kulturellen Missverständnissen auseinander.

Kick it like Freitag!

Sonderangebot zur EM 2024 - für kurze Zeit nur € 12 für 7 Wochen!

Freitag-Abo mit dem neuen Buch von T.C. Boyle Jetzt zum Vorteilspreis mit Buchprämie sichern.

Print

Erhalten Sie die Printausgabe direkt zu Ihnen nach Hause inkl. Prämie.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag und wir schicken Ihnen Ihre Prämie kostenfrei nach Hause.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen