Ukraine-Krieg: Will Olaf Scholz Realpolitik, kommt er um einen „Back Channel“ nicht herum
Diplomatie Willy Brandts neue Ostpolitik war auf Back-Channel-Kontakte mit Moskau angewiesen. Sie erscheinen auch heute ratsam, damit realistische Ansätze nicht gleich hysterischer Denunziation verfallen. Ob Olaf Scholz einen Geheim-Kanal nutzt?
Dass er auch auf geheime Gespräche steht, weiß man wegen Cum-Ex und der Warburg Bank – in der Außenpolitik dann aber bitte zum Wohle aller
Foto: Markus Schreiber/AFP/Getty Images
Bisweilen fragen sich Friedensaktivisten und Kriegsbefürworter das Gleiche: Wie können Kriege oder gefährliche Konfrontationen beendet werden, wenn ein Sieg auf dem Schlachtfeld nicht oder nur mit extrem hohen Kosten zu erringen ist? Als Antwort fordern die einen dann gern Unrealistisches von den Konfliktparteien, während die anderen aufgrund der fortgesetzten Vorwürfe resigniert und ratlos mit den Schultern zucken. Es gibt allerdings ein politisches Verfahren, das sich in nahezu aussichtslosen Situationen bewährt hat: die so genannte Back-Channel-Diplomatie.
Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben sie während der Kuba-Krise im Jahr 1962 zu einer regelrechten Kunst entwickelt. Ob sie im Krieg zwischen Russland und der Ukraine zur Anwendung kommt,
hren, das sich in nahezu aussichtslosen Situationen bewährt hat: die so genannte Back-Channel-Diplomatie.Die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion haben sie während der Kuba-Krise im Jahr 1962 zu einer regelrechten Kunst entwickelt. Ob sie im Krieg zwischen Russland und der Ukraine zur Anwendung kommt, wissen wir (noch) nicht. Bekannt ist aber, wie sie funktioniert, und warum sie so geheim bleiben muss. Die Bundesrepublik Deutschland hat sie vor 50 Jahren erfolgreich praktiziert.Back Channel nach Russland von Henry Kissinger gedecktSeinerzeit, im Herbst 1969, hatte Willy Brandt als Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 42,7 Prozent erzielt und erwog, trotz Bedenken in seiner Partei, gemeinsam mit den arg gerupften Liberalen einen Machtwechsel herbeizuführen. Brandt war noch gar nicht zum Kanzler gewählt, da bot ihm Henry Kissinger, der einflussreiche Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten, des Republikaners Richard Nixon, schon einen Geheim-Deal an. In Zukunft, so Kissinger zu Brandts Vertrautem Egon Bahr, sollten sämtliche Fragen und Probleme, die sich aus der neuen „Entspannungspolitik“ ergeben könnten, über einen „direkten Draht“ – unter Umgehung offizieller Stellen – mit der Führungsspitze der Sowjetunion besprochen werden. Diesen direkten Draht nannte Kissinger „Back Channel“. Er war so geheim, dass nicht einmal die Geheimdienste der beteiligten Länder offiziell davon wissen durften (inoffiziell wussten ein paar Eingeweihte natürlich Bescheid).Mit Hilfe dieses Back Channels wollten die neuen Führungen in den USA und Westdeutschland verhindern, dass die zarten Bande, die im Rahmen der Entspannungspolitik geknüpft werden sollten, bereits im Anfangsstadium von den politischen Falken und üblichen Bedenkenträgern beider Seiten kaputt geredet oder politisch torpediert werden konnten. Egon Bahr hat in seinen Memoiren einiges über die Nützlichkeit solcher Back Channels in der Diplomatie geschrieben (siehe Egon Bahr, „Das musst du erzählen“. Erinnerungen an Willy Brandt, Ullstein Buchverlage Berlin 2013)Auch die auf Willy Brandt folgenden Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel bedienten sich eines „Back Channels“. Selbstredend, dass fast alle US-Präsidenten vor und nach „Tricky Dick“ Nixon die unkonventionelle Einrichtung nutzten, etwa John F. Kennedy und sein Bruder Robert im Zuge der Kuba-Krise 1962, Bill Clinton 1993 beim Einfädeln des Oslo-Abkommens zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO und Barack Obama während der Atomverhandlungen mit der iranischen Führung zwischen 2009 und 2015.Dies sollte man im Hinterkopf haben, wenn heute wieder über „ungehörige“ Russland-, China- oder Iran-Kontakte spekuliert wird. Moralisches Hyperventilieren nützt in Fragen der internationalen Politik zumeist wenig. Gerade Politiker, die einen neuen Ton in die angespannten Beziehungen zu anderen Staaten bringen wollen, kommen um Back Channels nicht herum. Denn ein Spiel mit offenen Karten wäre zwar vertrauenswürdiger und angemessener als die eher „kindisch“ anmutende Geheimniskrämerei der Back Channel-Diplomatie, doch die Trägheit und das Beharrungsvermögen politischer Behörden lassen ein transparentes Handeln häufig nicht zu.Die alten Seilschaften in Ministerien, Botschaften, Lobbyverbänden und Geheimdiensten, die sich in ihrer Unersetzlichkeit schnell durch „Neuerungen“ bedroht fühlen, setzen dann alles daran, einen Politikwechsel zu erschweren, abzuschwächen oder gar zu verhindern.Back-Channel-Diplomatie läuft deshalb in der Regel über nicht-staatliche Akteure, also über unverdächtige Wissenschaftler, Think-Tank-Experten, ehemalige Politiker oder enge Vertraute aus dem familiären oder politischen Umfeld von Regierungschefs. In den USA nennt man diese Vorgehensweise seit den 1980er Jahren auch „Track-2-Diplomatie“, im Unterschied zur offiziellen Track-1-Diplomatie, die über das Außenministerium und die Botschaften läuft. Statt neutraler Einzelpersonen treffen sich beim Track-2-Verfahren ganze Gruppen in unregelmäßigen Abständen in so genannten Workshops, um untereinander persönliche Beziehungen aufbauen zu können, Verständnis für die Positionen der anderen Seite zu entwickeln und das durch Propaganda stark verzerrte Bild vom Gegner wieder zu vermenschlichen. Im Prinzip handelt es sich um eine gruppentherapeutische Variante des Back Channels, um ein psychologisches Verfahren, das große Regierungsapparate überfordern, wenn nicht gar sprengen würde.Back-Channel-Diplomatie ist kein LandesverratRegierungen sind ja selten monolithische Machtblöcke. Sie bestehen in der Regel aus unterschiedlichen Interessengruppen. Und so kommt es bei der Suche nach Auswegen aus verfahrenen Situationen oft zu lähmenden internen Konkurrenzkämpfen „hinter den Kulissen“. Es ist schließlich tausendmal leichter, mit Hilfe von Gerüchten und gezielten Indiskretionen Misstrauen in einen politischen Neuansatz zu säen, als diesen loyal zu unterstützen. Also üben sich die alten Kader unter Beihilfe gleichgesinnter Journalisten im Gegeneinander-Ausspielen, im gezielten Leaken von Dokumenten und in der unterschwelligen Verleumdung. Man redet und schreibt dann über „dubiose Russlandkontakte“, als handle es sich um eine besonders schwerwiegende Form des Landesverrats.Der Architekt der deutschen Ostpolitik, Egon Bahr, musste sich in den Anfangsjahren der Entspannungspolitik häufig gegen Andeutungen und Unterstellungen wehren, die ihn in die Nähe von Agententätigkeit rückten. Bahr, so hieß es hinter vorgehaltener Hand, allerdings auch ganz offen in Zeitungskommentaren und an Stammtischen, sei ein nützlicher Idiot Moskaus, Teil der fünften Kolonne, ein Verzichtspolitiker, der das Vaterland einer fremden Macht ausliefere. Wäre sein Back Channel nicht von Washington abgesichert gewesen (über Henry Kissinger), hätte ihn das Dauerfeuer aus rechtsnational eingestellten NPD-, CSU-, CDU- und FDP-Kreisen – von den Anwürfen erzkonservativer US-Falken gar nicht zu reden – wahrscheinlich aus dem Amt gejagt. Wütende Demonstranten der „Aktion Widerstand“ mit ihrem Mordaufruf „Brandt an die Wand!“ erregten damals die Republik.Gegenwärtig funktioniert die Dämonisierung des „Kreml“ wieder genauso perfekt wie damals. Selbst die politischen und publizistischen Eliten beteiligen sich – anders als in den 1970er Jahren – an der Verfestigung eines antiquierten Freund-Feind-Denkens. Es ist praktisch unmöglich, in dieser aufgeheizten Atmosphäre eine neue Entspannungspolitik zu implementieren – Rolf Mützenich, der Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion, hat das vor kurzem schmerzlich erfahren müssen. Es käme, so schimpfen die Gegner von Waffenstillständen und Verhandlungen, einer „moralischen Bankrotterklärung“ gleich, in Kriegszeiten ein Friedenskonzept wie die Brandtsche Ostpolitik vorzulegen, egal, ob nun diesseits oder jenseits des Atlantiks.Die angesehenen liberalen US-Ostküsten-Medien und die ihnen verbundenen Politiker der Demokratischen Partei verhalten sich – Ausnahmen bestätigen die Regel – in diesen Fragen kaum anders als die Republikaner. Bei den Worten Russland oder China hören die meisten offensichtlich auf, klar zu denken. Und die früher sozialliberal gesinnten Schwestermedien aus Hamburg, München und Berlin plappern eifrig nach, was ihnen konservative US-Think-Tanks und Washingtoner Geheimdienst-Strategen an Kreml-Dämonisierung vorgeben.Egon Bahr und Willy Brandt brauchten sieben (!) Jahre von der Formulierung des politischen Konzepts „Wandel durch Annäherung“ bis zur Unterzeichnung der Gewaltverzichts-Verträge mit den Regierungen in Moskau und Warschau. Ihre „neue Außenpolitik“ brachte auch im Inneren eine Phase gesellschaftspolitischer Entspannung. Denn äußere und innere Politik beeinflussen sich stets gegenseitig. Ohne den berühmten Back Channel wäre die sozialliberale Entspannungspolitik schon im Ansatz gescheitert. Das sollte man bedenken, wenn die nächste Hysterie-Welle über „verbotene“ Russlandkontakte durch die Medien geistert.
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